Schuss, Kette, Pixel – die Renaissance der traditionellen Jacquard-Weberei in Sachsen

(alle Fotos © Jan Kobel / aus den Jacquard-Webereien in Crimmitschau und Braunsdorf / Niederwiesa. Titelbild: Seidenweberei von ca. 1900)

„Industriekultur“ ist ein Topos unserer Zeit von wachsender Bedeutung. Er hat architektonische, städtebauliche, handwerkliche, soziokulturelle und sogar energiepolitische Bezüge. Nur selten verstehen wir darunter die Fortführung eben jener technischen Kultur, die die baulichen Zeugen aus der Zeit der industriellen Entwicklung Europas einst beherbergten. Doch es gibt sie wieder, die Manufakturen und Fabriken, die heute noch fabrizieren wie vor 150 Jahren.

Zwei dieser traditionellen und zukunftsträchtigen Unternehmen sind die Camman Gobelin Manufaktur (1886 Chemnitz) und die Seidenmanufaktur Eschke (1868 Mühltroff/Vogtland), beide vor Untergang und Vergessen gerettet und wieder aufgebaut von Peggy Wunderlich und Torsten Bäz aus Chemnitz und ihren Mitarbeitern.

Wunderlich und Bäz sind Visionäre der besonderen Art, deren Aufbauwerk mit diesem Artikel vorgestellt werden soll. Bevor ich darauf genauer zu sprechen komme, ein paar Erläuterungen zum grundsätzlichen Verständnis der Jacquard-Weberei und ihrer Bedeutung für die mechanische Reproduktion des Bildes und die Digitalisierung von Prozessen.

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Jacquard-Webstühle der Camman Gobelin Manufaktur in Braunsdorf. Von der Decke hängend im Vordergrund die Lochkarten, die für jeden Kettfaden eine Rauf-Runter-Programmierung enthalten, im Hintergrund die Steuerungsfäden für die Kettfäden.
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Venezianische Maskerade 2021

Der deutsche Pavillon in den Giardini. Die Negation einer Ausstellung – als Ausstellung.

Die Biennale Architettura in Venedig gilt als die bedeutendste internationale Visionenschau für Architektur und Städtebau. Angesichts der scheinbar exponentiell wachsenden Herausforderungen könnte man vermuten, dass Ziele und Erwartungen hoch gesteckt sind.

Unsere Städte verlieren seit Jahrzehnten an Lebensqualität, die ländlichen Regionen kontinuierlich Menschen. Die Bauwirtschaft ist für ein Drittel der weltweiten CO2-Emmision verantwortlich, Bauen im Bestand, Umnutzung und urbane Verdichtung sind zweifelsfrei die Themen der Zukunft. Viele Städte suchen Wege, um das Auto aus den Innenstädten herauszubekommen.

Die Antworten, die in Venedig auf diese Herausforderungen gegeben werden, erscheinen allerdings dürftig – soweit ein langer Tag im Arsenale und in den Giardini überhaupt einen repräsentativen Einblick erlaubt. Um die gesamte Architektur-Biennale zu überblicken, inkl. der vielen über Stadt und Lagune verteilten Sonderinitiativen, ist ein mehrtägiger Aufenthalt notwendig.

Die Biennale di Architettura findet, wie die Kunstbiennale, in den vermutlich ältesten Industriekulturen der Welt statt. Den Werftanlagen Venedigs aus dem 15. Jahrhundert. Mehr braucht es nicht, um immer wieder zu kommen.

Venedig im Sommer 2021, frisch wiedereröffnet nach harten Lockdowns, ohne asiatische und amerikanische Touristen, ist eine Verlockung, der Venedigliebhaber nicht widerstehen können. Eine wunderschöne Stadt, in der Touristen und Einheimische sich scheinbar die Waage halten, in der das normale Leben, das ja allen Gerüchten zum Trotz nie aufgehört hat, wieder sichtbar wird. Dazu eine Ausstellung unter dem vielversprechendem Titel „How will we live together?“, kuratiert vom libanesisch-amerikanischen Architekten Hashim Sarkis:

„In einer Welt des zunehmenden ökonomischen Ungleichgewichts, die sich auch politisch immer mehr spaltet, rufen wir die Teilnehmer auf, sich Räume auszudenken, in denen wir wohlwollend miteinander leben können. Die Betonung liegt auf miteinander.“  (Hashim Sarkis)

Bei aller moralischer Unanfechtbarkeit dieses „Aufrufs“ wünschte man sich freilich etwas mehr analytisches Denken als Basis einer Ausstellung, die die Architektur der Zukunft zu bestimmen sucht. Sich „Räume auszudenken“ ist schon sehr idealistisch in dem Sinne, dass die Frage nach den Gründen des „ökonomischen Ungleichgewichts“ gar nicht gestellt wird. Von „carbon foodprint“, Bauen im Bestand und Flächenverbrauch, Sondermüllproduktion oder städteplanerischen Renaissancen ganz zu schweigen. Von all dem aber kaum ein Wort.

Noch scheint alles gut in Venedig. Architektur, städtische Strukturen, Denkmalpflege, Wandgestaltungen. Eigentlich der perfekte Ort für eine Architekturausstellung.

Die Ausstellung selbst macht schnell klar: Sie will auf die drängenden Fragen des Bauens keine Antworten geben, da sie diese schlicht und einfach ignoriert. Hashim Sarkis und seine Co-Kuratoren sind dem Denken des 20. Jahrhunderts verhaftet, einer Moderne, die dem Kult des genialen Architekten huldigt. In dieser Welt brilliert der Planer durch aufsehenerregende Einfälle, deren Bezug auf die drängenden Fragen der Menschheit durch freies Assoziieren auf den sie begleitenden Texttafeln irgendwie nahegelegt wird.

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Erzgebirge? Chemnitz?

Es ist wie immer alles anders als wir denken

// Mit dem Entdecken des eigenen Landes, im nahen wie im fernen, stirbt meist nicht nur ein Haufen dummer Vorurteile. Das Erkunden fremder Regionen und das Erspüren ihrer Unterschiede dient auch dem: zu begreifen, wie sehr wir alle bis heute durch die Erfahrungen unserer Vorfahren geprägt sind. Das kann ziemlich spannend sein. Das Erzgebirge, eine der dynamischsten Regionen des Ostens, war uns soeben erst ein besonders gutes Beispiel für beides.

Titelbild: Weihnachtsschmuck à la Erzgebirge, gesehen in Stollberg

Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme ursprünglich aus München, einer Stadt, die sich selbst natürlich für den Mittelpunkt der Welt hält, und von der aus man gerne nach Süden schaut, gelegentlich nach Norden oder Westen, ganz selten aber in den Osten. Wer in München erzählt, er fahre ins Erzgebirge, zum Beispiel nach Chemnitz und nach Schneeberg, um dort Urlaub zu machen, gut zu essen und Ausstellungen zu besuchen, gilt als Scherzkeks. Erzgebirge?! Chemnitz?! Hallo?!

Nein, dieser Artikel soll kein Wessi-bashing werden, und auch kein Schönreden einer Region, in der die völkischen Angstmacher für Deutschland an die 30 Prozent erzielen.

Es geht darum, anhand eines kleinen 36-Stunden-Ausflugs, der uns stark beeindruckt hat, exemplarisch nachzuvollziehen, warum der Osten Deutschlands immer wieder und überall ein vor Überraschungen überquellendes Land ist. In diesem Fall das südwestliche Sachsen.

Wunderschön: Schneeberg vom Turm der Kirche St. Wolfgang gesehen
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Die Bachs, die Unstrut, das Welterbe und ich

// Wie ich auf einer Fastenwanderung durch die Fremde im eigenen Land nicht mehr zu entscheiden wußte, ob ich über den spürbaren Unwillen der Tourismusverantwortlichen, das Land aus der Perspektive des zeitgenössischen Reisenden zu betrachten, weinen oder glücklich sein sollte, und, während ich noch darüber nachsann, wie schön es ist, niemandem zu begegnen, mitten im 17. Jahrhundert landete und eine verwegene Idee von mir Besitz ergriff.

Die Burg Wendelstein beim Memleben. Keine Wegelagerer weit und breit

Von Erfurt unsere Arnstädter Gera hinunter nach Norden, durch das Erfurter Becken bis Sömmerda, sodann an der Unstrut entlang Richtung Naumburg, eine Woche hindurch versorgt nur mit Tee, klarer Gemüsebrühe und Wasser, so war es geplant. Aufgrund der großen Hitze schrumpfte die Reichweite zwar bis nach Laucha, dennoch hatte ich danach einen klaren, keineswegs nüchternen Blick auf meine inzwischen schon nicht mehr so neue Heimat. Schuld daran waren schier endlose Weizenfelder, drei Schlösser und ein Buch.

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Bauhaus des Volkes / Das „Haus des Volkes“ des Franz Itting (1875-1967)

Oben: streng rechter Winkel vom Stuhl bis in die Stahlbeton-Unterzüge sowie Vollverglasung: betonte Funktionalität im Restaurant des "Haus des Volkes"

Auf der niedrigsten Nord-Süd-Durchquerung des Thüringer Waldes, an der Grenze zu Franken, liegt Probstzella. Wie eine herrschaftliche Festung überragt ein ungewöhnliches Gebäude den kleinen Ort: das „Haus des Volkes“, errichtet und ausgestattet von den Bauhäuslern Alfred und Gertrud Arndt 1927.
Wie im Falle des Faguswerkes des Carl Benscheidt in Alfeld an der Leine verdanken wir dieses Zeugnis vom Aufbruch in die Moderne einem sozial und fortschrittlich eingestellten Unternehmer.

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Real existierender Mythos der Zeitlosigkeit

Das Fagus-Werk von Carl Benscheidt (1858–1947), Walter Gropius (1883-1969) und Adolf Meyer (1881-1929) im niedersächsischen Alfeld / Leine.
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Irgendwann zwischen 1908, als Arnold Schönberg mit seinem Zweiten Streichquartett Opus 10 dem Wiener Publikum das grandiose Vergnügen eines veritablen Skandals bereitete, und 1913, als Wladimir Malewitsch in St. Petersburg sein erstes Schwarzes Quadrat malte, muss er stattgefunden haben: der Urknall der Moderne. Unter Kaisern und Königen und deutlich noch vor dem Ersten Weltkrieg.

Bahnwaage

Zwischen diesen beiden Terminen, im Jahre 1911, beauftragte der ehrgeizige Unternehmer Carl Benscheidt den jungen Architekten Walter Gropius, ihm auf der grünen Wiese an der Bahnstrecke von Hannover nach Bebra eine moderne Fabrikanlage für die Produktion von Schuhleisten zu errichten. Real existierender Mythos der Zeitlosigkeit weiterlesen

Das schönste Museum der Welt / Das zweite Leben des Neuen Museums in Berlin

Rekonstruktion bedeutet Zerstörung 
David Chipperfield

Ein Essay über deutsche Denkmalpflege und Baukultur
Ausgerechnet in Deutschland und ausgerechnet inmitten der ehemaligen preußischen Hauptstadt ist ein über fünfzig Jahre bis zur piranesischen Ruine verfallenes klassizistisches Gebäude in einer Weise restauriert worden, die Maßstäbe setzt für den Umgang mit historischer Bausubstanz.
Deutsche Denkmalpfleger, Restauratoren, Architekten, Baustofflieferanten, Handwerker, Kirchenvereine und Bauherren, besucht das Neuen Museum in Berlin und lest die unglaubliche Geschichte seiner Wiedergeburt, der größten archäologischen Ausgrabung, die jemals an einem einzelnen Gebäude durchgeführt wurde.
Nie zuvor habe ich deutlicher begriffen, warum das, was in Deutschland bis heute unter „Sanierung“ firmiert, so oft Zerstörung bedeutet – von Originalsubstanz und Geschichte, von Schönheit und Lebensqualität –, und warum nichts so schön und anrührend ist wie das Fragment. Das schönste Museum der Welt / Das zweite Leben des Neuen Museums in Berlin weiterlesen

Ibiza – die afrikanische Schwestervon Judith Rüber

Kommt man mit dem Flieger nach Ibiza, so sieht man zuerst die ausgedehnten geometrischen Becken der Salinen, umgeben von Feldern mit roter Erde, einigen Palmen und flachen, weißen kubischen Häusern. Wäre ein Seeadler vor 2700 Jahren auf der Insel gelandet, es hätte sich ihm ein ähnliches Bild geboten. Ibiza – die afrikanische Schwestervon Judith Rüber weiterlesen

New York City 2012 // Protokoll einer unvermeidlichen Reise

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Ich war noch nie in New York. Judith auch nicht. Kurz vor meinem 50. Geburtstag beschlossen wir, dass das nicht so bleiben könne. Eine Stadt, die alle für den Mittelpunkt der Welt halten, und deren New York Times in Sachen Journalismus die Maßstäbe setzt, wollten wir zumindest einmal erlebt haben.
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