Foto: Afrikanische Flüchtlinge, im Auftrag und finanziert von der EU von tunesischen Behörden in der Wüste ausgesetzt, ohne Wasser und Lebensmittel.
„Das Boot ist voll“, soll Sarah Wagenknecht einmal gesagt haben, und dieser Satz ist einer der Grundlagen ihrer Popularität.
Die Haltung, dass „wir“ nicht „alle“ Flüchtenden aufnehmen können, gilt in weiten Teilen der Gesellschaft als unbestreitbar. Das ändert nichts daran, dass es verlogener und heuchlerischer Unfug ist, dem nur eines zugrunde liegt: blanker Rassismus. Eine Abrechnung nach fünf Punkten:
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„DAS BOOT IST VOLL“ (1)
oder:
„Bürger zu sein steht nur Deutschen zu“
Nehmen wir mal an, es sei so. Das Boot ist also voll., leider passen nicht alle rein. Also müssen wir sortieren: wer darf rein, und wer nicht? Oder haben die Pech, die zu spät kommen?
„Das Boot ist voll“ behauptet zweierlei: zum einen einen Sachzwang, zum anderen unterstellt es eine Gleichberechtigung derer, die mitfahren wollen.
Könnten ja auch die aussteigen, die schon immer mitsegelten und jetzt mal Pause machen? Oder wir bauen einfach noch ein Boot?
Hahaha, so war’s natürlich nicht gemeint!
Gemeint war: dass es Menschen gibt mit höheren Rechten, und Menschen mit niedrigeren Rechten. Oder GAR keinen Rechten.
Das höhere Recht ist GEBURTSRECHT.
Ganz egal, welche Art von Zeitgenosse du bist, du hast es nun mal, dieses Recht, und es kann dir keiner mehr nehmen. Du bist Deutscher. Das ist ein großes Verdienst, auf dass du dir eine Menge einbilden darfst. Meinen die Deutschen gerne.
Dieses Geburtsrecht – deine STAATSBÜRGERSCHAFT – ist die Bedingung aller anderen Rechte.
Kein (deutscher) Pass, keine Rechte (in Deutschland). So einfach ist das:
Kein Pass, keine Rechte.
Keine Rechte, keine Verpflichtung.
Kein PASS, keine RECHTE, kein MENSCH.
Lasst sie im Meer ersaufen.
Bringt sie in die Wüste, damit sie verdursten.
Errichtet Lager, damit sie darin verrotten.
Das darf man für „menschenverachtend“ oder „zynisch“ halten. Der Sache nach ist es Rassismus.
So ist ein Großteil der Deutschen offenbar, und es werden immer mehr, und es steht ihnen frei: Sie definieren Menschen höherer und geringerer Wertigkeit: Untermenschen. Sie fühlen sich gut in ihrer Verachtung, sie ziehen daraus Stolz und Selbstbewußtsein. Man hat ja sonst nicht soviel, woraus man das erzielen könnte.
Dann ist das so, ich kann es nicht ändern. Was aber gar nicht geht ist: So zu tun, als würde man ja gerne helfen, aber leider sei „das Boot“ schon voll. Ausgabe es hier irgendeine Form von „Sachzwang“. Dieser heuchlerischen Lüge soll hier widersprochen sein.
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„DAS BOOT IST VOLL“ (2)
oder:
„Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht“
Nehmen wir nun den Satz als ein BILD für einen vorgefundenen Zustand eines Landes: Formulieren wir es so:
Deutschland ist 358.000 Quadratkilometer groß und hat 85 Mio. Einwohner. Wieviel passen da noch rein? Wann ist denn das Boot, sprich das Land, tatsächlich voll? Hat das einer ausgerechnet?
Haben wir nicht genug Platz oder Beton, um Wohnungen zu bauen?
Nicht genug Ackerböden, um zusätzliche Leute zu ernähren?
Nicht genug Dachziegel, um die Dächer dicht zu bekommen?
Das habt ihr ausgerechnet? Um uns mitzuteilen, dass bei Zuwanderung alle in den Wohnungen zusammenrücken müssen, nur noch Sparportionen auf den Teller bekommen und die Renten deshalb gekürzt werden? Habt ihr das ausgerechnet?
Ach, darum geht es auch nicht?
Es geht darum, lerne ich, dass man diese Fremden dem Deutschen Volke nicht ZUMUTEN kann.
Wir reden also gar nicht von Platz, oder Ressourcen, oder Finanzen. Wir reden nicht von materiellen Dingen. Plötzlich. Wir reden von PSYCHOLOGIE. Das wollen wir doch bitte jetzt mal festhalten:
Das Boot ist nicht voll. Wir wollen nur nicht, dass da irgendwer mitsegelt außer „uns“. Weil wir die nicht mögen. Um es freundlich auszudrücken. Wir wollen es einfach nicht. Basta.
Ok, verstanden. Aber warum eigentlich nicht?
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„DAS BOOT IST VOLL“ (3)
oder:
„Wir importieren Kriminalität“
Angeblich geht es darum, WER da alles kommt, und warum man diese Psychologie der Ablehnung verstehen muss:
Messerstecher, Vergewaltiger, Islamisten, Chauvinisten, Machos, Betrüger der Sozialsysteme.
Getan wird so, als würden Messerangriffe, sexualisierte Gewalt, religiöser Fanatismus oder Betrug mit der Zuwanderung nach Deutschland importiert.
Als sei die BILD nicht seit Jahrzehnten voll mit Berichten über solche Straftaten oder Fälle, begangen zu tausenden von reinrassigen Biodeutschen.
Sollen wir jetzt die Deutschen alle ausweisen, weil sie Messerstecher unter sich haben? Natürlich nicht, denn hier kommt eine neue Variante der Lügerei zum Zuge:
Wenn ein Deutscher oder eine Deutsche einen umbringt mit dem Küchenmesser, das eigene Kind ermordet, auf Mallorca den Sozialstaat verarscht oder seine Frau und Kinder grün und blau schlägt, dann wissen wir immer:
Das sind „Einzeltäter“. Oder psychisch kranke Täter.
Auf jeden Fall AUSNAHMEN. Es hat nichts mit dem zu tun, was wir Deutsche sind.
Es hat NICHTS mit unserer Kultur zu tun.
Es hat NICHTS mit dem Christentum zu tun.
Es hat NICHTS zu tun mit unserer Heiligsprechung der Kleinfamilie.
Es hat NICHTS zu tun mit DEUTSCHLAND.
In anderen Worten:
All diese Verbrechen sind VERSTÖSSE gegen unsere Kultur. Sie gehören geahndet. Sie sind ein Fall für Polizei und Gerichte und damit fertig.
Diese Logik gilt natürlich genau dann nicht, wenn eine/r ohne deutschen Pass oder mit migrantischen Wurzeln genau dieselben Verbrechen begeht. Dann gilt selbstverständlich:
Das ist ALLES Ausdruck von deren Kultur.
Das ist ALLES der Islam.
Das ist ALLES Zeichen tief sitzender Frauenverachtung.
Das ist ALLES Eigenheit der arabischen / afrikanischen / türkischen / ukrainischen etc. Länder und Nationen.
Irgendwann, nachdem sogar Zeitungen wie die NZZ, die mal als seriös galten, diesen rassistischen Müll immer wieder verbreitet haben, glauben die Leute das. Dann habt ihr sie soweit.
Dann könnt ihr sagen:
„Die Menschen haben Angst.“
„Das Boot ist voll.“
„Das ist alles nicht mehr zumutbar.“
Dann könnt ihr euch auf das berufen, was ihr selbst geschaffen habt.
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„DAS BOOT IST VOLL“ (4)
oder:
„Migration zerstört unsere Kultur und Identität“
Schließlich kommen die intellektuellen Bedenkenträger zu Wort, die Roger Köppels und Viktor Orbans, die sich nicht in die Niederungen dieses verächtlichen Rassismus begeben wollen. Darunter auch, und in erschreckender Zahl, die deutschen „Linken“. Sie glauben, gute Argumente zu haben für den Stopp von Zuwanderung aus den zerbombten Kriegszonen des Wertewestens.
Ihr Argument lautet:
Die kulturelle Eigenständigkeit des Landes und die kulturelle Vielfalt Europas müssen bewahrt werden, und seien durch Zuwanderung in Gefahr. Am Ende gäbe es sonst nur noch eine „internationalistische Kultur“, in der sich niemand mehr zuhause fühle.
Eine andere argumentative Ebene, die nicht mehr den Migranten selbst angreift, und insofern als nicht rassistisch erscheint. Eine Argumentation, die sich im Name ALLER Kulturen der Welt gegen die Migration „von Kulturen“ ausspricht. Nach dem Motto: Die Syrer würden auch nicht wollen, wenn wir Bayern uns mit unserer Weißwurst in Damaskus breit machten! Das weiß ein Markus Söder ganz genau.
„Kulturen“, sprich Lebensgewohnheiten, Esstraditionen, Feste oder Häuserbau ändern sich stetig. Migration ist nur ein Faktor von vielen. Aber wie genau funktioniert das? Nehmen wir das bekannteste Beispiel: die deutsche Esskultur.
Mit den Türken kam der Döner, mit den Italienern die Pizza. So gibt es in einigen Kommunen heute kaum noch deutsche Gastronomie. Warum? Weil die DEUTSCHEN Döner und Pizza lieben. Weil es ein Angebot ist, das ihnen schmeckt und das den immer enger werdenden Geldbeutel schont. Die „Döner- und Pizza-Kultur“ ist den Deutschen nicht übergestülpt worden, sie haben sie selbst geschaffen durch ihre Nachfrage. Die „Döner- und Pizza-Kultur“ ist heute auch deutsche Kultur.
„Kultur“ ist kein statisches Monument. Sie ist unentwegt in Veränderung, und zwar durch die Akzeptanz und Übernahme neuer Gewohnheiten durch die Kulturträger selbst, die angeblich zu schützen seien.
Was hat die deutsche Patchwork-Familie noch gemein mit der Familienkultur der 50er Jahre? Was die Arbeitskultur damals mit der Work-Life-Balance heute? WIR waren es, die das veränderten. So ist es immer. Niemand wurde oder wird hier vergewaltigt oder kulturell enteignet.
Die kulturellen Verluste in Sachen Identität und Eigenständigkeit, die tatsächlich zu beklagen sind, wie die der deutschen Baukultur, des Städtebaus oder des traditionellen Handwerks, sind Verluste, die wir uns selbst zugefügt haben durch die Ideologien der Moderne und das kapitalistische Rechnen. Aber das steht auf einem anderen Blatt.
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„DAS BOOT IST VOLL“ (5)
oder:
„Migration hat nichts mit den Kriegen des Westens zu tun“
Die Menschen, die nach Deutschland wollen, kommen überwiegend aus Regionen, die Deutschland und seine Kriegs- und NATO-Partner mit Krieg, Sanktionen, Al Qaeda & ISIS-, Drohnen- oder sonstigem Terror überzogen haben. Afghanistan, Syrien, Irak, Somalia, Sahel, Libyen, Kurdistan, Kosovo.
Sie fliehen vor „unseren“ Kriegen, und sie fliehen zu uns. Es ist beeindruckend, wie die deutsche Flüchtlingsdebatte diesen Aspekt ausklammert. Sie klammert den politischen Aspekt aus: wovor fliehen die Leute dort eigentlich?
Sie klammert den persönlichen Aspekt aus: was muss eigentlich passieren, bis Menschen alles aufgeben für ein Leben in Ungewissheit?
Dieses Ausblenden ist unumgänglich und notwendig.
Die Dissonanz zwischen der eigenen Selbstgerechtigkeit und dem von uns erzeugten Elend wäre anders kaum zu ertragen. Dieses Ausblenden ist eine Aufgabe der Medien, und sie werden ihr vorzüglich gerecht.
Wie weit dieses Ausblenden gehen kann, erleben wir aktuell in Gaza und im Libanon. Eine Öffentlichkeit, die Terroranschläge und Bombenteppiche gegen eine zivile Bevölkerung feiert als geniale und großartige Bestrafungsaktion gegen „den Terror“, hat die Frage, welche Ansprüche Flüchtlinge haben, die nun auch von dort kommen werden, schon beantwortet.