„Industriekultur“ ist ein Topos unserer Zeit von wachsender Bedeutung. Er hat architektonische, städtebauliche, handwerkliche, soziokulturelle und sogar energiepolitische Bezüge. Nur selten verstehen wir darunter die Fortführung eben jener technischen Kultur, die die baulichen Zeugen aus der Zeit der industriellen Entwicklung Europas einst beherbergten.Doch es gibt sie wieder, die Manufakturen und Fabriken, die heute noch fabrizieren wie vor 150 Jahren.
Zwei dieser traditionellen und zukunftsträchtigen Unternehmen sind die Camman Gobelin Manufaktur (1886 Chemnitz) und die SeidenmanufakturEschke (1868 Mühltroff/Vogtland), beide vor Untergang und Vergessen gerettet und wieder aufgebaut von Peggy Wunderlich und Torsten Bäz aus Chemnitz und ihren Mitarbeitern.
Wunderlich und Bäz sind Visionäre der besonderen Art, deren Aufbauwerk mit diesem Artikel vorgestellt werden soll. Bevor ich darauf genauer zu sprechen komme, ein paar Erläuterungen zum grundsätzlichen Verständnis der Jacquard-Weberei und ihrer Bedeutung für die mechanische Reproduktion des Bildes und die Digitalisierung von Prozessen.
Die Prüfung der Thüringer Residenzkultur als Kandidat für das UNESCO-Weltkulturerbe durch die aktuelle Landesregierung ist ein sehr wichtiger Schritt, dieses kulturelle Erbe nicht nur zu respektieren und zu sichern, sondern auch sichtbar und erlebbar zu machen. In einem zweiten Schritt sollte das Tourismuskonzept des Landes kongenial angepasst werden. Diese Beitrag möchte dafür einen Weg aufzeigen.
1. Einleitung:
Wie vom ZEIT-Magazin im März 2021 beeindruckend visualisiert, hat das Land Thüringen ein deutliches Alleinstellungsmerkmal. Es besteht in der Vielfalt und Dichte seiner Residenzen, die sich der „Kleinstaaterei“ dieses Landes verdanken. Wenn Thüringen auch in Mentalität und Baukultur viel mit Franken, Sachsen-Anhalt und Sachsen gemein hat, unterscheidet es sich doch von seinen unmittelbaren Nachbarn, erst recht von allen anderen deutschen Staaten, dadurch, dass es in seiner Geschichte bis 1918 nie zentralistisch regiert war. Dass das ein positiv zu bewertendes Alleinstellungsmerkmal sei, klingt auf den ersten Blick erstaunlich. Es wird aber verständlich, wenn man sich folgendes vor Augen führt:
Die vielen kleinen Fürstentümer Thüringens konkurrierten seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht durch militärische Macht gegeneinander, wie die großen Fürstentümer und Königshäuser. Sie eiferten darum, sich durch die Pracht ihrer Bauten und Gartenanlagen, die Qualität ihrer Sammlungen, durch den Geist ihrer Hofkultur und die Erlesenheit ihrer Komponisten, Hofkapellen, Dichter*innen und Theater hervorzutun. Weimar ist das bekannteste Produkt dieser Konkurrenz, die Leute wie Goethe und Schiller, Herder und Wieland nach Thüringen lockte, und der es letztlich auch zu verdanken ist, dass Thüringen heute stolz auf das Bauhaus sein darf.
Schloss Friedenstein in Gotha. 1,15 Millionen Sammlungsgegenstände. Ein Universum für sich. Gesehen aus dem Herzoglichen Palais
Wichtig ist zu erkennen, dass die Thüringer Residenzkultur nicht nur von touristischer und kultureller Bedeutung ist, sondern ein wesentlicher Beitrag zur Regionalentwicklung und für den Zuzug von Menschen sein kann. Die demoskopischen Prognosen für einzelne Regionen des ostdeutschen Raums sind dramatisch. Zu den größten Herausforderungen des Landes Thüringen gehört es deshalb, das Veröden der kleinen Städte und der ländlichen Regionen abseits der A4 zu stoppen. Zuzug wird zu einem immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor.
Voraussetzung dafür ist eine Konzertierung von Infrastruktur-, Wirtschafts- und Kulturpolitik mit einer landesweiten Tourismuskonzeption. (…)
2. Residenzstädte, Residenzkultur: DAS ist Thüringen!
Thüringen teilt sein Alleinstellungsmerkmal Residenzkultur nur mit einer einzigen Region in der Welt, die geschichtlich ähnlich strukturiert war: den Stadtstaaten und kleinen Fürstentümern Norditaliens zur Zeit der Renaissance. Auch die kulturelle Dichte dort verdankt sich ähnlich wie in Thüringen einer Kleinstaaterei. Mit dem Unterschied, dass Italien seit Jahrhunderten ein deutsches Sehnsuchtsland ist, denn von hier kam die Musik, die Kunst, das Theater und die Architektur der Neuzeit über die Alpen.
Weida, oder …
Doch auch Thüringen war einst ein Sehnsuchtsland! Für Schiller, der seinen „Teppich der Anbetung“ gen Rudolstadt ausrollte, wo er seine Liebe und Freiheit fand, oder für Wieland, der in der Nähe von Weimar sein „Osmantinium“ gründete. Die kulturelle Vielfalt und Pracht wirkte noch lange, bis in die 1920er Jahre. Sie fand mit den Nationalsozialisten und schließlich mit der Verachtung des feudalen Erbes durch die DDR ein jähes Ende. Bis heute hat sich Thüringen davon nicht erholt.
Es ist Zeit, das zu ändern! Denn an die Tradition eines deutschen „Arkadiens“ kann, davon sind die Autoren überzeugt, Thüringen wieder anknüpfen. Das Land kann und muss wieder Sehnsuchtsland werden. Denn ein touristisches Angebot, das keine Sehnsüchte bedient, ist ohne jede Chance.
… Venedig? Norditalien und Thüringen verbindet einiges.
Glücklicherweise hat in Thüringen trotz aller Wechselfälle der Geschichte diese Residenzkultur in all ihren Facetten – Gebäude, Strukturen, Gärten, Sammlungen, Landschaften und Wege – in erstaunlichem Umfang überlebt.
Die historischen Zentren der Städte Altenburg, Arnstadt, Bad Langensalza, Eisenach, Gotha, Greiz, Meiningen, Rudolstadt oder Schmalkalden – um nur einige zu nennen – sind überwiegend erhalten, die sie umgebenden Landschaften nicht zersiedelt, die zu den kleinen Zentren gehörigen Ort- und Liegenschaften präsentieren sich fast unverändert wie seit den letzten Tagen des Feudalismus. Damit ist der Grundstein gelegt für eine Tourismus-Konzeption der Sehnsucht. Allerdings auch nur der Grundstein.
Um auf diesem Fundament des baulichen und kulturellen Erbes ein Erlebnis Residenzkultur aufzubauen, braucht es fünf weitere Elemente. Hierzu später mehr. Zuerst noch folgen wir der Frage, welche Art von Sehnsucht dieses Land in der Mitte Deutschlands denn überhaupt befriedigen könne?
3. Sehnsucht Thüringen? Aber ja!
Es ist – nach 30 Jahren touristischer Selbstfindung und Irrwegen – offenbar auch für Touristiker nicht ganz einfach, zu verstehen, welche Art von Angebot die Thüringer Residenzlandschaft darstellt. Zu sehr ist das thüringische und deutsche Tourismus-Denken von „Leitprodukten“ und „Leuchttürmen“, „Event“ und „Erlebnis“, „Fun“ und „Sport“, „Branding“ und „Marken“ geprägt, und zu sehr wird sich an dem orientiert, was bereits anderswo bewährt scheint, statt neue Ideen zu wagen und zu realisieren.
Die Verfasser dieser Zeilen betreiben seit bald 10 Jahren ein kleines Hotel in einem denkmalgeschütztem Gebäudekomplex in Arnstadt, und es gelingt ihnen zunehmend, Gäste zu anzuziehen, die länger als einen oder zwei Tage bleiben, und die nach einer Woche höchst beglückt abreisen mit den Worten: Wir kommen wieder!
Stets ist das Erstaunen groß, wie schön und authentisch sich Thüringen darbietet, immer ist das Bedürfnis nach mehr Thüringen geweckt. Regelmäßig werden wir mit Vorschlägen eingedeckt, was noch geschehen sollte, um die Thüringer Städte touristisch weiter aufzuwerten. Unsere Gäste kommen nach Arnstadt, weil sie über die Plattform www.urlaubsarchitektur.deauf unser Hotel neugierig geworden sind. Sie verlassen Arnstadt mit einer Sehnsucht nach mehr Thüringen.
Sehnsuchtsort Hotel Stadthaus Arnstadt. Geschichte erleben, garantiert ohne Laminat und Trockenbau.
Diese seit Jahren hautnah erlebte Begeisterung ist für die, die hier wohnen, oft nur schwer nachzuvollziehen. Sie erkennen an ihren Städten, ihren Landschaften das Besondere nicht, es ist ihnen selbstverständlich geworden. Wer aber aus Frankfurt, Stuttgart, Kassel oder Köln nach Arnstadt reist, von London oder New York ganz zu schweigen, kommt aus einer völlig anderen Welt. Einer Welt, die zwar aus einer ähnlichen abendländischen Geschichte hervorgegangen ist, die im Jahre 2021 jedoch bereits so oft zerbombt, umgestaltet, abgerissen, überformt, verdrängt, unsichtbar gemacht, verleugnet und zerstört wurde, das heute nichts mehr an sie erinnert.
Die Städte des Westens inklusive Berlin erzeugen aus ihrem enormen Erfolg und ihrer Verdichtung, ihrem Stress und ihrer autogerechten Zersiedelung heraus ein stetig wachsendes Bedürfnis nach einem urbanem Erlebnis Stadt, das es seit Jahrzehnten im Speckgürtel Deutschlands in dieser Form nicht mehr gibt.
In Thüringen können Gäste Geschichte und Vergangenheiterleben in besonderer Anschaulichkeit, als ganzes Land, nicht als vereinzeltes Denkmal, wie anderswo. Als Liebhaber der Musik und der Kunst, der Renaissance oder des Jugendstils, der Industriekultur und der Moderne, taucht man in Welten ein, die zugleich authentisch sind und dochnicht museal, sondern ganz reale, normale Städte. Kleine Städte, aber Städte.
Natürlich ist das kein Angebot für jeden, sowieso ist kein touristisches Angebot für alle Menschen gleichermaßen interessant. Es ist aber ein Angebot für eine sehr begehrte Zielgruppe: die kulturaffinen Individualtouristen, die Familien mit gut gefülltem Geldbeutel, Menschen mit Anspruch auf nachhaltiges Reisen (das dichte Bahnnetz Thüringens ist hier interessant) und Menschen, die sich ihre Kulturerlebnisse erwandern oder erradeln wollen, bis ins hohe Alter, Bach-Afficionados und Barock-Fans. Diese Zielgruppen sind eindeutig zu definieren und anzusprechen. Es sind Millionen von potentiellen Gästen, alleine in Deutschland.
Werbung für Bach und Thüringen in der Londoner U-Bahn. Schlösser, Gärten und Museen sind nicht weniger interessant. Die Angelsachsen lieben alte Gemäuer.
4. Die Thüringer Residenzstädte müssen SICHTBAR werden!
Tourismus ist für Thüringen wichtig nicht nur als ein Wirtschaftszweig neben anderen, sondern als der Wirtschaftszweig, der wie kein anderer die Voraussetzungen schaffen kann für das Hauptkriterium zukünftigen wirtschaftlichen Erfolges: Zuzug, Menschen, junge Menschen und Familien.
Schon heute ist es so, dass Unternehmen ihre Standorte nicht mehr (nur) an Autobahnen, Infrastruktur und Fördermaßnahmen orientieren, sondern daran, wo die Arbeitskräfte, die man braucht, hinziehen wollen und werden. In Zukunft wird sich dieser Trend weiter verstärken, der Kampf um Fachkräfte wird das große Problem der deutschen Wirtschaftmaschine werden. Städte, die keine begehrten Wohn- und Lebensorte sind, werden mit den Menschen auch Arbeitsplätze verlieren.
Es hat sich etwas verkehrt: nicht mehr die Menschen folgen den Arbeitsplätzen, wie es Jahrhunderte lang der Fall war. Sondern die Unternehmen den Menschen! Das zu verstehen ist eine der großen Herausforderungen der Wirtschafts- und Strukturpolitik jedes Bundeslandes. Der Weg ist vorgezeichnet: die berstenden Metropolen müssen entlastet werden durch attraktive Lebensperspektiven in den kleinen Städten und im ländlichen Raum. Thüringen ist prädestiniert dafür, diese Alternativen zu bieten.
Zugleich bieten Digitalisierung, Homeworking und digitale Konferenzen auch die Chance, abseits der Zentren erfolgreich zu sein – als Dienstleister, Arbeitnehmer und auch als Stadt. Die Voraussetzung Nr. 1 lautet jedoch: diese kleinen Städte, auch jene abseits der Autobahnen, müssen nicht nur schön und lebenswert, sondern auch sichtbar sein.
Viele Thüringer Städte sind jedoch nicht nur unbekannt, sie sind unsichtbar. Der Tourismus alleine bietet diesen Städten die Chance, wieder dorthin zu geraten, wo sie schon einmal waren, vor über 100, 150 Jahren: Im Blickfeld der Menschen in den Metropolen, die der Großstadt überdrüssig geworden sind. (…)
Greiz im Vogtland. Das Fundament ist gelegt. Eine wunderbar wieder-hergestellte Stadt. Im „Thüringer Tourismuskonzept“ kommt sie nicht vor.
Die fünf Säulen einer erfolgreichen Tourismusstrategie für ganz Thüringen – am Beispiel Greiz
Nehmen wir als Beispiel jene Stadt unter den Thüringen Städten, die es vielleicht am schwersten hat, Menschen anzuziehen. Sie liegt weit im Osten des Landes an der Grenze zu Sachsen, ist relativ schlecht angebunden, hat viel verlorene Industrie und immer noch leicht sinkende Einwohnerzahlen, die nächsten Hauptzentren liegen in einem anderen Bundesland (Plauen und Zwickau). Eine Stadt, die, so schön sie ist, alleine aufgrund ihre Lage ganz andere, schwierigere Bedingungen hat als zum Beispiel die Stadt Arnstadt. Nehmen wir Greiz.
Was braucht die Stadt Greiz, um zu einem Ort der Sehnsucht zu werden, zu einer Urlaubs-Destination im Rahmen des Städtetourismus?
Wir haben das zusammengefasst nach fünf Gesichtspunkten:
1)Aufwertung deröffentlichen Räume der Stadt im Sinne eines flanierenden und verweilenden Tourismus. Greiz ist wie die meisten Städte Thüringens im Wesentlichen durchsaniert. Die drei Schlösser sind zumindest gesichert, vieles auch restauriert, ähnlich die Innenstadt, Straßen, Pflaster und Brücken historisch informiert wieder hergestellt. Dennoch: wer durch die Stadt flaniert, vermißt Angebote zu verweilen.
Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen: Durch Greiz fließt die Weiße Elster, sie teilt die Stadt in zwei Hälften, eine jüngere und eine ältere, beide von großer Pracht. Zwischen Schloss und zwei Brücken liegt ein ehemaliger Schlossgarten, heute allerdings nichts als – Wiese. Welche Stadt hat eine solche Uferpromenade in ihrem Zentrum? Aber die Greizer scheinen nichts daraus machen zu wollen.
Greiz, Zentrum: Hier könnten die Elster-Terrassen entstehen
Wichtig wäre es, hier einen Zugang zum Wasser zu schaffen, mit Sitztreppen aus Naturstein, Bänken, ein paar Bäumen, die im Sommer Schatten spenden, mit Spiel- und Planschzonen für Kinder und mit einem kleinen Sommercafé. Eine Anregung, die übrigens auch mancher anderen thüringischen Stadt gut zu Gesicht stünde. Förderprogramme des Landes für solche Baumaßnahmen sollten sich finden lassen.
Das wäre auch ein Fotomotiv, das durch Deutschland wandern könnte, ein Motiv für eine Kampagne. Leben und Entspannen am Wasser mit zwei Schlössern im Hintergrund, Erfüllung einer Sehnsucht, überall auf der Welt. Ein Foto, das neugierig macht, aus einer Stadt, die keiner kennt, noch nicht mal die Thüringer*innen selbst. Ein erster Schritt wäre getan.
2) Hotels in historischen Gebäuden, die gehobenen Ansprüchen genügen. Die schönste Stadt nutzt nichts, wenn die Menschen, die sie besuchen, nicht ihren Erwartungen entsprechend übernachten können. Greiz braucht ein Hotel, das diese Erwartungen übertrifft. Es kann nur in einem historischem Gebäude untergebracht sein, denn ein Neubau ist nicht nur unverantwortlich angesichts des Leerstandes in der Stadt, er ist auch langweilig, international austauschbar, ohne lokales Colorit.
Geschichte erleben wollen die Gäste, die durch Residenzkultur angesprochen werden, auch in ihren Zimmern, in Frühstücks- und anderen öffentlichen Räumen. Mit Sichtmauerwerk, historischen Putzen, alten Dielenböden und historischen (Kasten-)Fenstern. Nicht zielführend sind Laminatböden, neue Industrieputze oder abgehängte Decken. Dazu gehören Gartenanlagen, Terrassen, Restaurant, Café und Bar.
Der Marstall in Greiz, aus der Innenstadt heraus gesehen. Er könnte den Rahmen abgeben für ein Hotel, in dem jeder einmal übernachten möchte
Solche Hotelinvestitionen thüringenweit zu realisieren bedarf öffentlich-privater Kooperation und regional übergreifender Konzepte. Statt um Ufos wie „Center-Parcs“ zu buhlen, sollte Thüringen hier ansetzen. Die Verfasser dieses Papiers können hierzu konkrete konzeptionelle Anregungen unterbreiten.
Ein Anfang sollte zügig gemacht werden, denn der Wandel der Residenzstädte zu Orten der Sehnsucht wird viele Jahre benötigen. Solche einzigartigen Hotel-Leuchttürme (hier ist es sinnvoll davon zu sprechen) ziehen im übrigen stets weitere vergleichbare Hotels und Ferienwohnungen nach sich. Mit Unterstützung des Landes müssen maßstabsetzende touristische Einrichtungen geschaffen werden.
3)Förderung der Gastronomie, orientiert an den Konzepten europäischer Metropolen. Die schönste Stadt nutzt weiterhin nichts, wenn die Menschen, die sie besuchen, nicht ihren Erwartungen entsprechend einkehren, essen und genießen können. Ohne an dieser Stelle ein Urteil abgeben zu können über den Zustand der Greizer Gastronomie, darf man vermuten, dass hier wie fast überall in Thüringen noch Luft nach oben ist.
Mit einer gezielten Kampagne und entsprechenden Förderanreizen muss auch in Greiz eine internationalen Ansprüchen genügende Gastro-Szene entstehen. Diese sollte sowohl das niederpreisige Take-away- und Imbiß-Bedürfnis mit regionalen, handwerklichen hergestellten Produkten bedienen und das Bedürfnis nach einer Slow-food-Wirtshauskultur, sowie – auf der anderen Seite der Preisskala – feines Dinieren ermöglichen.
4) Das Erlebnis Begreifen durch synoptische Erzählung. Warum ist Residenzkultur der Schlüssel zu einer touristischen Entwicklung von ganz Thüringen? Weil die Residenzkultur der Schlüssel zum Begreifen der europäischen Geschichte und Kultur ist, mal im Detail, mal als Gesamtschau.
Von der frühen Missionierung bis zum 19. Jahrhundert der Nationenbildung, von der Opposition Heiliges Römischen Reich versus Reformation, vom Schmalkaldischen Bund über den 30-jährigen Krieg bis zum Westfälischen Frieden – überall läßt sich in Thüringen anschaulich erzählen von Romanik, Gotik und Renaissance, vom Barock, Klassik und Gründerzeit und von der Geschichte der frühen Industrialisierung. Von der Via Regia und von Hanse- und Freien Reichsstädten, von Vögten, Grafen oder Fürsten. Oder auch davon, wie die Bauern, Handwerker, Stadtpfeifer oder Juden und Jüdinnen lebten, oder was Dichter*innen und Denker, Organisten und Orgelbauer, Komponist*innen und Maler bewegte.
Es sind gerade diese sich vor- und übernational überlappenden und ergänzenden Impulse des Mittel- und Südeuropa umfassenden Heiligen Römischen Reiches, die bis heute Landschaft, Geschichte und Kultur Thüringens prägen und die uns, so wir zuhören können, Geschichten erzählen, die in ganz Europa ihren Widerhall finden.
Was beispielsweise verbindet die Mesquita in Cordoba, die Hofburg in Wien und das im Stile der niederländischen Renaissance erbaute Residenzschloss Neideck samt Schlossgarten in Arnstadt? Es ist Kaiser Karl V., Europas mächtigster Herrscher des 16. Jahrhunderts, es ist Günther der Streitbare von Schwarzburg, es ist Schillers Don Karlos.
Friedrich Schiller und seinen Zeitgenossen waren diese unmittelbaren Zusammenhänge der europäischen Geschichte mit der Thüringer Residenzkultur noch völlig präsent, sie spiegeln sich in seinen Dramen. Wir aber haben sie vergessen. Auch hier muss eine Tourismusstrategie für das Land ansetzen: mit einer synoptischen Erzählung, die durch das Begreifen eine Stadt zum Erlebnis, ja überhaupt erst sichtbar macht.
Oder das Thema Gärten und Parks: In England sind diese für Europäer aller Nationen ein selbstverständlicher Grund für eine 14-tägige Reise. In Thüringen aber fehlt es bis heute an Selbstbewußtsein, diese überhaupt als touristische Ziel zusammenzufassen. So beschädigt ist das Selbstvertrauen dieses Landes in sich selbst.
5. Eine Marketing-Strategie im Verbund mit den anderen Städten.
Die Residenzstadt Greiz ist nur zu begreifen und in einen dynamischen Entdeckungsprozess einzubinden im Verbund mit Weida, Burgk, Gera und den anderen Schlössern und Burgen des Hauses Reuss. Dieser Entdeckungsprozess umfasst viele Sphären des gesellschaftlichen Lebens und führt quer durch Thüringen und Europa. Von den Vögten von Weida zum Hause Reuss, von Heinrich Posthumus zu Heinrich Schütz, von Schütz nach Venedig und von Vivaldi zu Bach, von Bach zu Luther und von Luther zu Cranach u.s.w.
11. August 2012: Das französisch-belgisch-niederländischen Ensemble Vox Luminis besucht in Gera die Sarkophage des Heinrich Posthumus Reuss, beschriftet mit den Texten der Exequien des Heinrich Schütz. Die Begeisterung über dieses Erlebnis führte zu einer spontanen Darbietung der international hochdekorierten Gesangsgruppe
Die Städte und Orte des Hauses Reuss sollten sich somit als touristische Einheit begreifen, mit gemeinsamen Kampagnen und Substrategien. Das gilt analog auch für die Schwarzburger, die Wettiner-Ernestiner, Bach und Luther (letzteres mit dem Luther-Weg bereits vorbildlich umgesetzt). Unter einer noch zu findenden Dachmarke, neuen Slogans und einem vorgegebenen gestalterischen Rahmen müssen die Thüringer Residenzstädte ihre Werbemittel, Drucksachen, Internetseiten und Pressearbeit gemeinsam anpassen an das Ziel, Thüringen als einen Ort des sinnlichen Erlebens und Begreifens der europäischen Kultur in den Fokus eines internationalen Tourismus zu stellen.
Fazit: Auf vielen Ebenen in Politik und Verwaltung ist ein Umdenken spürbar, hin zu mehr Nachhaltigkeit im Bauen und mehr Respekt vor dem historischen Bestand, für den Erhalt unserer Industriekultur und urbaner Strukturen als bewährte städtische Lebensräume. Die Zeit ist reif für eine touristische Neuausrichtung des Landes Thüringen und seiner Residenzstädte, aber auch der dazugehörigen Freien Reichsstädte und der Industriestädte.
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In diesem Zusammenhang ein Blick in die Thüringer Kulturlandschaft entlang der Unstrut von 2019:
Dr. US-Ökonom Michael Hudson über die Geopolitik der USA, die Rolle Europas darin, und warum eine Multipolare Welt mit dem Eurasischem Raum als neuem Machtzentrum unvermeidbar ist.
Ohne darüber zu reden, geht Hudson davon aus, dass die europäischen Nationen unter der Leitung der EU in Brüssel weiterhin den US-Direktiven folgen werden und nicht nur das Decoupling von Russland, sondern auch von China durchsetzen werden. Ob das tatsächlich so eintritt, ist meines Erachtens noch nicht entschieden, auch angesichts der deutschen Ambitionen, eine neue weltweit aktive „Ordnungsmacht“ werden zu wollen. Das europäische Kapital wiederum sieht das so oder so relativ gelassen, es ist international aufgestellt – und wandert aus.
FRAGE: Herr Hudson, Sie sagten: „Was Sie als „Blockierung von Nord Stream 2″ bezeichnen, ist in Wirklichkeit eine Buy-American-Politik.“ Könnten Sie das kommentieren?
MICHAEL HUDSON: Die Außenpolitik der USA konzentriert sich seit langem auf die Kontrolle des internationalen Ölhandels. Dieser Handel trägt in hohem Maße zur Zahlungsbilanz der USA bei, und seine Kontrolle gibt den US-Diplomaten die Möglichkeit, andere Länder zu kontrollieren.
Wir durften schonmal reinschauen, in die documentafifteen, wo sie Kunst als kollektiven Resonanzraum des sozialen Lebens feiern – und den elitären Kunstmarkt einfach aussperren
Titelbild: Demonstrationspappen aus Indonesien, auf der diesjährigen documenta in kollektiver Dauerproduktion
Jan Kobel, 16.6.2022
Die Kunst ist das eine, ihre Vermarktung das andere. Soll heißen: Kunst kann alles mögliche sein, aber der Kunstbetrieb, das ist doch eine klar definierte Sache.
Die funktioniert so: Die Kuratoren der bedeutenden Museen und die großen, zumeist angelsächsischen Galeristen wachen über die Zugänge zum Heiligen Gral, zu den mit Milliarden Dollar gefüllten Töpfen der Sammler und Sammlungen. Sie suchen natürlich nur „die Besten“, die Elite der Kunstwelt, die ihr Geld wert sind, und die will erst einmal definiert sein.
Back to Basics: Filzpantoffel aus Yak-Haaren als Aufklärung über die Nachhaltigkeit des nomadischen Lebens. Hafenstraße 76
The Winner Takes it All, was sonst, der Rest darf an die Volkshochschule. So muss das sein, denn erst der Existenzkampf der erfolglosen Künstler gibt den Handverlesenen die AURA DES GENIALEN. Zwischen Elite und Looser ist nur wenig Platz, und der wird auch immer enger. Niemand hat dich gezwungen, Künstler werden zu wollen.
Größenwahn und Scham, Rausch und Einsamkeit, Starkult und Verachtung – das ist die Welt des kapitalistischen Kunstbetriebs und all derer, die dazugehören wollen, bis nach China. Das Business ist wirklich Big und die Verlockungen sind groß. Aber: Die diesjährige documenta will das nicht!
Die konzeptlose Zerstörung des industriekulturellen Erbes und energetisch wertvoller Bausubstanz in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt mit staatlichen Mitteln scheint kein Ende zu finden – allen gegenläufigen Diskussionen in Wissenschaft und Forschung und allen politischen Bekenntnissen zur Nachhaltigkeit zum Trotz
Diesmal: Greußen, nördlich unweit der Landeshauptstadt Erfurt gelegen. Thüringens Wirtschaftminister Wolfgang Tiefensee lässt verkünden, dass er Anfang Januar der Stadt Greußen persönlich einen Fördermittelbescheid über zwei Millionen Euro (!) übergeben wird zur Zerstörung eines einmaligen und sanierungsfähigen Industriedenkmals nur 30 Bahnminuten vom Hauptbahnhof Erfurt entfernt.
Das TMWWDG ignoriert damit nicht nur den vieldiskutierten Neustart baupolitischer Richtlinien und Zielsetzungen, es mißachtet auch die seit langem laufenden Diskussionen und neue fachliche Befunde.
Wenn deutsche Medien sich einig sind, dass eine Gaspipeline eine Gefahr darstellt, weil das Gas nun nicht mehr durch die Ukraine zu uns kommt, die EU extra ihre Verordnungen ändert, um diese Pipeline zu verhindern, und es der deutschen Wirtschaft, die hier geschädigt wird, offenbar die Sprache verschlägt – dann lohnt es sich, genauer nachschauen, worum es hinter den Kulissen geht.
Hintergründe zu den russischen Pipelines, die gerne verschwiegen werden, Ausblicke auf eine irrlichternde Hegemonialmacht USA und Einblicke in deutsche Redaktionsstuben, auf die man lieber verzichtet hätte.
Jan Kobel / Arnstadt, 25.12.2021
Die Vorgeschichte: wie kommen die Röhren in die Ostsee?
Wie die „2“ in Nord Stream 2 (NS2) andeutet, handelt es sich bei der Gaspipeline durch die Ostsee nicht um die erste dieser Art. Die erste Pipeline, Nord Stream 1, verläuft parallel zur aktuell umstrittenen NS2, wurde bereits im November 2011 eingeweiht und versorgt seitdem Europa mit 55 Mrd. m3 Erdgas pro Jahr.
Mit 7,4 Mrd. Euro war NS1 eine der größten privaten Investitionen in die Energienetze Europas. Eigentümer dieser ersten Ostseepipeline ist die Nord Stream AG mit Sitz in der Schweiz. Dieses Unternehmen gehört zu 51% Gazprom, den Rest halten Wintershall, E.ON, Gasunie und Engie.
(Quelle: wikicommons)
Die Idee, eine Gaspipeline kostenintensiv durch die Ostsee zu bauen, anstatt weitere Röhren durch Osteuropa, kam Ende der 90er Jahre auf. Mit der Neuordnung Europas strich Russland Polen und der Ukraine nach und nach die noch aus RGW-Zeiten stammenden Sonderkonditionen für Erdgaslieferungen, was diese nicht bereit waren hinzunehmen.
Was uns die Pandemie lehrt über die politische Kultur des Abendlandes, und warum nun China übernehmen wird – wirtschaftlich, politisch und moralisch.
von Jan Kobel, 14. 11.2021
Titel: Die Infografik der Johns-Hopkins-Universität vom November 2021 täuscht. Dort, wo es dunkel ist, wird zukünftig das Licht der Wissenschaft am hellsten scheinen.
Anfang 2020, als das alles losging, schrieben sich in den sozialen Medien einige die Finger wund, warum es zu ZERO COVID keine Alternative gäbe und warum die Idee, eine Pandemiekurve „flatten“ oder eine „Herdenimmunität“ abwarten zu wollen, reines Wunschdenken ist. Es waren Wissenschaftler wie Tomas Pueyo oder Konstantin Tavan, Journalisten wie Dirk Specht oder Christian Y. Schmidt.
Die wissenschaftlichen Stimmen aus dem fernen Osten, durch SARS-Pandemien erfahren und mit der Thematik vertraut, ließen sowieso keinen Zweifel aufkommen: Eine Pandemie kann man nicht kontrolliert ablaufen lassen, die Risiken sind nicht nur für tausende von Menschen eine tödliche Gefahr, sie sind auch gesellschaftlich unkalkulierbar.
Vor allem aber bedeutet das, was Europa und die USA seit März 2020 ignorant durchziehen, es darauf ankommen zu lassen, dass das Virus in Millionen von Menschen Billiarden von Möglichkeiten testen kann, erfolgreich zu mutieren und dadurch immer gefährlicher zu werden. Genau das wurde vorherhergesagt, und genau das erleben wir nun.
Titelbild: Der Standort der großen Synagoge des Architekten Richard Klepzig (1860 – nach 1923) in Gotha heute.
32 Bild- und 32 Texttafeln auf extra entworfenen und angefertigten Stelen vergegenwärtigen die Geschichte der Synagogen und des jüdischen Lebens in Thüringen. Die Ausstellung ist zugleich als Wanderausstellung konzipiert
Sichtbar machen, was aus dem Blick geraten ist und Jahr für Jahr unsichtbarer wird, das ist das Ziel einer Ausstellung von Judith Rüber und Jan Kobel im Milchhof Arnstadt vom 24. September bis zum 14. November 2021. Ein Ausstellungsprojekt des Milchhof Arnstadt e.V. im Rahmen der und unterstützt von den ACHAVA Festspielen.
Der deutsche Pavillon in den Giardini. Die Negation einer Ausstellung – als Ausstellung.
Die Biennale Architettura in Venedig gilt als die bedeutendste internationale Visionenschau für Architektur und Städtebau. Angesichts der scheinbar exponentiell wachsenden Herausforderungen könnte man vermuten, dass Ziele und Erwartungen hoch gesteckt sind.
Unsere Städte verlieren seit Jahrzehnten an Lebensqualität, die ländlichen Regionen kontinuierlich Menschen. Die Bauwirtschaft ist für ein Drittel der weltweiten CO2-Emmision verantwortlich, Bauen im Bestand, Umnutzung und urbane Verdichtung sind zweifelsfrei die Themen der Zukunft. Viele Städte suchen Wege, um das Auto aus den Innenstädten herauszubekommen.
Die Antworten, die in Venedig auf diese Herausforderungen gegeben werden, erscheinen allerdings dürftig – soweit ein langer Tag im Arsenale und in den Giardini überhaupt einen repräsentativen Einblick erlaubt. Um die gesamte Architektur-Biennale zu überblicken, inkl. der vielen über Stadt und Lagune verteilten Sonderinitiativen, ist ein mehrtägiger Aufenthalt notwendig.
Die Biennale di Architettura findet, wie die Kunstbiennale, in den vermutlich ältesten Industriekulturen der Welt statt. Den Werftanlagen Venedigs aus dem 15. Jahrhundert. Mehr braucht es nicht, um immer wieder zu kommen.
Venedig im Sommer 2021, frisch wiedereröffnet nach harten Lockdowns, ohne asiatische und amerikanische Touristen, ist eine Verlockung, der Venedigliebhaber nicht widerstehen können. Eine wunderschöne Stadt, in der Touristen und Einheimische sich scheinbar die Waage halten, in der das normale Leben, das ja allen Gerüchten zum Trotz nie aufgehört hat, wieder sichtbar wird. Dazu eine Ausstellung unter dem vielversprechendem Titel „How will we live together?“, kuratiert vom libanesisch-amerikanischen Architekten Hashim Sarkis:
„In einer Welt des zunehmenden ökonomischen Ungleichgewichts, die sich auch politisch immer mehr spaltet, rufen wir die Teilnehmer auf, sich Räume auszudenken, in denen wir wohlwollend miteinander leben können. Die Betonung liegt auf miteinander.“ (Hashim Sarkis)
Bei aller moralischer Unanfechtbarkeit dieses „Aufrufs“ wünschte man sich freilich etwas mehr analytisches Denken als Basis einer Ausstellung, die die Architektur der Zukunft zu bestimmen sucht. Sich „Räume auszudenken“ ist schon sehr idealistisch in dem Sinne, dass die Frage nach den Gründen des „ökonomischen Ungleichgewichts“ gar nicht gestellt wird. Von „carbon foodprint“, Bauen im Bestand und Flächenverbrauch, Sondermüllproduktion oder städteplanerischen Renaissancen ganz zu schweigen. Von all dem aber kaum ein Wort.
Noch scheint alles gut in Venedig. Architektur, städtische Strukturen, Denkmalpflege, Wandgestaltungen. Eigentlich der perfekte Ort für eine Architekturausstellung.
Die Ausstellung selbst macht schnell klar: Sie will auf die drängenden Fragen des Bauens keine Antworten geben, da sie diese schlicht und einfach ignoriert. Hashim Sarkis und seine Co-Kuratoren sind dem Denken des 20. Jahrhunderts verhaftet, einer Moderne, die dem Kult des genialen Architekten huldigt. In dieser Welt brilliert der Planer durch aufsehenerregende Einfälle, deren Bezug auf die drängenden Fragen der Menschheit durch freies Assoziieren auf den sie begleitenden Texttafeln irgendwie nahegelegt wird.
Die Prüfung der Thüringer Residenzkultur als Kandidat für das UNESCO-Weltkulturerbe durch die aktuelle Landesregierung ist ein sehr wichtiger Schritt, dieses kulturelle Erbe nicht nur zu respektieren und zu sichern, sondern auch sichtbar und erlebbar zu machen. In einem zweiten Schritt sollte das Tourismuskonzept des Landes kongenial angepasst werden. Diese Beitrag möchte dafür einen Weg aufzeigen.
1. Einleitung:
Wie vom ZEIT-Magazin im März 2021 beeindruckend visualisiert, hat das Land Thüringen ein deutliches Alleinstellungsmerkmal. Es besteht in der Vielfalt und Dichte seiner Residenzen, die sich der „Kleinstaaterei“ dieses Landes verdanken. Wenn Thüringen auch in Mentalität und Baukultur viel mit Franken, Sachsen-Anhalt und Sachsen gemein hat, unterscheidet es sich doch von seinen unmittelbaren Nachbarn, erst recht von allen anderen deutschen Staaten, dadurch, dass es in seiner Geschichte bis 1918 nie zentralistisch regiert war. Dass das ein positiv zu bewertendes Alleinstellungsmerkmal sei, klingt auf den ersten Blick erstaunlich. Es wird aber verständlich, wenn man sich folgendes vor Augen führt:
Die vielen kleinen Fürstentümer Thüringens konkurrierten seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht durch militärische Macht gegeneinander, wie die großen Fürstentümer und Königshäuser. Sie eiferten darum, sich durch die Pracht ihrer Bauten und Gartenanlagen, die Qualität ihrer Sammlungen, durch den Geist ihrer Hofkultur und die Erlesenheit ihrer Komponisten, Hofkapellen, Dichter*innen und Theater hervorzutun. Weimar ist das bekannteste Produkt dieser Konkurrenz, die Leute wie Goethe und Schiller, Herder und Wieland nach Thüringen lockte, und der es letztlich auch zu verdanken ist, dass Thüringen heute stolz auf das Bauhaus sein darf.
Schloss Friedenstein in Gotha. 1,15 Millionen Sammlungsgegenstände. Ein Universum für sich. Gesehen aus dem Herzoglichen Palais
Wichtig ist zu erkennen, dass die Thüringer Residenzkultur nicht nur von touristischer und kultureller Bedeutung ist, sondern ein wesentlicher Beitrag zur Regionalentwicklung und für den Zuzug von Menschen sein kann. Die demoskopischen Prognosen für einzelne Regionen des ostdeutschen Raums sind dramatisch. Zu den größten Herausforderungen des Landes Thüringen gehört es deshalb, das Veröden der kleinen Städte und der ländlichen Regionen abseits der A4 zu stoppen. Zuzug wird zu einem immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor.
Voraussetzung dafür ist eine Konzertierung von Infrastruktur-, Wirtschafts- und Kulturpolitik mit einer landesweiten Tourismuskonzeption.
Die aktuell gültige, im Auftrag des Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft unter der Mitwirkung von einem halben dutzend Agenturen und 15 Workshops erstellte Tourismusstrategie des Landes Thüringen umfasst ohne Anhang 73 Seiten. Sucht man darin nach den Begriffen, mit denen sich, im Marketing-Jargon, die USP (unique selling points – Alleinstellungsmerkmale) Thüringens festmachen, kommt man auf folgende Resultate:
Residenz: 0 Treffer Residenzstädte: 0 Treffer Schlösser: 0 Treffer Kunst- oder Wunderkammer: 0 Treffer Gärten: 0 Treffer Kleinstaaten: 0 Treffer Fürsten: 0 Treffer Johann Sebastian Bach: 0 Treffer Heinrich Schütz: 0 Treffer Lukas Cranach: 0 Treffer usw.