Schuss, Kette, Pixel – die Renaissance der traditionellen Jacquard-Weberei in Sachsen

(alle Fotos © Jan Kobel / aus den Jacquard-Webereien in Crimmitschau und Braunsdorf / Niederwiesa. Titelbild: Seidenweberei von ca. 1900)

„Industriekultur“ ist ein Topos unserer Zeit von wachsender Bedeutung. Er hat architektonische, städtebauliche, handwerkliche, soziokulturelle und sogar energiepolitische Bezüge. Nur selten verstehen wir darunter die Fortführung eben jener technischen Kultur, die die baulichen Zeugen aus der Zeit der industriellen Entwicklung Europas einst beherbergten. Doch es gibt sie wieder, die Manufakturen und Fabriken, die heute noch fabrizieren wie vor 150 Jahren.

Zwei dieser traditionellen und zukunftsträchtigen Unternehmen sind die Camman Gobelin Manufaktur (1886 Chemnitz) und die Seidenmanufaktur Eschke (1868 Mühltroff/Vogtland), beide vor Untergang und Vergessen gerettet und wieder aufgebaut von Peggy Wunderlich und Torsten Bäz aus Chemnitz und ihren Mitarbeitern.

Wunderlich und Bäz sind Visionäre der besonderen Art, deren Aufbauwerk mit diesem Artikel vorgestellt werden soll. Bevor ich darauf genauer zu sprechen komme, ein paar Erläuterungen zum grundsätzlichen Verständnis der Jacquard-Weberei und ihrer Bedeutung für die mechanische Reproduktion des Bildes und die Digitalisierung von Prozessen.

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Jacquard-Webstühle der Camman Gobelin Manufaktur in Braunsdorf. Von der Decke hängend im Vordergrund die Lochkarten, die für jeden Kettfaden eine Rauf-Runter-Programmierung enthalten, im Hintergrund die Steuerungsfäden für die Kettfäden.

Kaum etwas ist uns heute so selbstverständlich und zugleich so fremd wie ein textiles Gewebe. Während die Weberei über Jahrtausende den Alltag der Menschen prägte, als allgegenwärtiges Handwerk, ist sie uns heute völlig aus dem Sinn gekommen. Ob in Bangladesch oder in Deutschland, gesponnen und gewebt wird in industriellem Maßstab jenseits jedes persönlichen Geschicks oder Wissens und in menschenleeren Kästen in irgendwelchen Gewerbegebieten.

Das Weben von Tüchern ist eine der ältesten Fertigkeiten der Menschheit, wie das Töpfern oder der Einsatz des Rades. Das Sich-Bekleiden mit schützenden Textilien war eine Voraussetzung für Arbeitsteilung und Zivilisation. Neben der schützenden Funktion ging es dabei immer auch um Schmuck und Kunst, für welche sich neben der Keramik auch das Weben besonders eignet.

Schon die Frauen der Römer liebten die zarteste chinesische Seide, die zum Entsetzen der damaligen Sittenwächter ihre Körperformen kaum verhüllte. Im Mittelalter waren es die Araber und Perser, die die begehrtesten und kunstvollsten Textilien erzeugten und damit den Weltmarkt beherrschten. Ob gewebt oder – feiner Unterschied – gewirkt (https://de.wikipedia.org/wiki/Bildwirkerei), mit der Beherrschung des Webstuhls einher ging immer auch die Gestaltung von Farbenspielen, Mustern und Bildern.

Das Raster von Kettfäden zu senkrecht dazu verlaufenden Schussfäden, kombiniert mit der Möglichkeit, verschiedenfarbige Fäden im Gewebe – durch Anheben oder Absenken des Kettfadens – flächig zu verbergen oder sichtbar zu machen, war im Kern der erste Schritt der Menschheit zur bildlichen Darstellung aus einzelnen Bildpunkten heraus. Wie die Rasterpunkte im Druck und die Pixel auf dem Bildschirm können die selektiv geführten bunten Fäden einer Textilie in unserem Auge letztlich jedes beliebige Bild erzeugen.

Einmal mehr verweist uns die Kulturgeschichte auf China, wo vermutlich die Menschheit erstmalig textiles Gewebe zur Darstellung von Bildern und/oder Mustern verwendet hat, gefolgt von Indien, Persien und Arabien. Die Industrialisierung aber nicht nur des Antriebs der Webstühle, sondern auch der variablen Steuerung des Kettfadens fand in Europa statt, und zwar in Frankreich im 18. Jahrhundert.

Die Mechanisierung, Automatisierung und Industrialisierung ergab sich zwingend aus dem Prinzip des webenden Gestaltens: wenn nämlich das schlichte Anheben und Absenken des Kettfadens Mittel des bildnerischen Gestaltens ist, wird die mechanische Steuerung dieser Bewegungen zum Schlüssel für die massenhafte Reproduktion von Bildern.

Die Antwort auf diese Herausforderung war die Lochkarte. Sie war die gestanzte Handlungsanweisung für die Mechanik eines Webstuhles, mit der das Wissen, das Können und die Vorstellungskraft des Webers aufgehoben war in einem digitalen Code: ja oder nein, Kettfaden anheben oder nicht anheben.

Der Mann, der im Jahre 1805 erstmalig, nach generationenübergreifenden Experimenten, einen funktionsfähigen programmierbaren Webstuhl präsentierte, war Joseph-Marie Jacquard (1752-1834). Die Entwicklung dieser Steuerungstechnik verlief parallel zur Entwicklung des mechanischen Webstuhls, der die Bewegung und Kraft des Webers durch Wasserkraft oder Dampf ersetzte. Während der mechanische Webstuhl die Hardware des Webens erneuerte und beschleunigte, sorgte Jacquard für die Software, die die gestalterischen Möglichkeiten des industriell erzeugten Tuchs enorm ausweitete.

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Abbildung des Erfinders Joseph-Marie Jacqard, selbstverständlich in Seide gewebt. Es existieren heute noch ca. ein halbes Dutzend dieser Textilien. Mehr hierzu im Anhang des Artikels.

Die Jacquard-Weberei verbreitete sich aus Frankreich, hier insbesondere Lyon, während des 19. Jahrhunderts in ganz Europa, so zum Beispiel in die Textilzentren Elberfeld, heute Wuppertal, oder Limbach in Sachsen. In Sachsen entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Webereien, zu DDR-Zeiten arbeiten in verschiedenen Kombinaten über 200.000 Menschen. Darunter auch spezialisierte Jacquard-Weber für die Seidenweberei oder zur Produktion edler Stoffe und Brokate. Die gesellschaftlichen Umbrüche nach 1990 machten diesen Manufakturen früher oder später erstmal den Garaus.

Als wenn nichts gewesen wäre: Jacquard-Weberei in Sachsen 2023

Bis heute ist das Prinzip der Jacquard-Weberei Grundlage der musterbildenden und gestaltenden industriellen Weberei, wenngleich nicht mehr über Lochkarten, sondern elektronisch gesteuert. Die modernen Maschinen, die aufwändige Musterungen erzeugen können, dienen der Produktion großer Mengen, wie zB. bei konfektionierter Bettwäsche oder Vorhangstoffen. Individuelle Gestaltungen, kleine Mengen, Reparaturen oder Rekonstruktionen verloren gegangener Stoffe lassen sich auf diesen Maschinen jedoch kaum rentabel realisieren.

Schon 1828 wurden in Chemnitz Jacquard-Maschinen angeboten

Hier setzen die beiden Betriebe ein, die Peggy Wunderlich und Torsten Bäz 2014 (Camman Gobelin Manufaktur) und 2020 (Eschke Seidenmanufaktur) kauften. Wunderlich und Bäz kommen aus der Textilbranche und übernahmen zwei Familienbetriebe, für deren Geschäftsführung es keine Nachfolger gab. Nachdem in den letzten hundert Jahren viele ähnliche Webereien aufgeben mußten, setzen sie darauf, dass es für hochwertige Jacquard-Textilien auch in relativ geringen Meterzahlen immer noch oder wieder eine zahlungskräftige Nachfrage gibt: von der Rekonstruktion verloren vergangener Musterungen bis zur Realisierung von Designerentwürfen im Luxussegment.

Ein weiteres Moment zeichnet das Angebot von Wunderlich & Bäz aus, sowohl in der Gobelin-Produktion als auch in der Seidenweberei: Während sich die moderne Produktion von Seidentextilien in der Regel auf eine Kettfaden-Dichte von 64 Fäden pro cm beschränkt, können mit den Maschinen der Seidenmanufaktur Eschke extrem feine Gewebe gesponnen werden mit Dichten bis zu 125(!) Kettfäden pro cm. Die Gobelinmanufaktur schafft noch 118 Fd/cm. HiEnd in der Textilweberei, die ähnlich der hohen Auflösung von Kamerasensoren oder Bildschirmen eine detaillierte Zeichnung und fein abgestimmte Farbigkeit ermöglicht. Ab fünf Metern Länge sind Sie dabei.

Für die historischen Maschinen der Gobelin-Manufaktur gibt es inzwischen sogar die Möglichkeit, moderne digital programmierte Musterungen und Abbildungen mittel eines speziellen Stanzgerätes auf die Lochkarten zu übertragen. So entstehen durch die Kombination von moderner Digitaltechnik und traditioneller Mechanik spannende neue Arbeitsfelder und Produkte.

Webmeisterin Susanne Knoth an der Seidenwebmaschine mit einem Jugendstilmuster

Die Risiken solcher Übernahmen und Neuausrichtungen traditioneller Betriebe sind offenkundig. Kompetente und engagierte Mitarbeiter sind zu finden, technische Probleme zu lösen, Finanzierungen zu sichern, Märkte neu zu erschließen. Vor allem gilt es, überhaupt erst einmal sichtbar zu werden mit einem Angebot, das nur für eine sehr kleine Gruppe von Kunden überhaupt interessant ist: Museen, Schlossverwaltungen, Restauratoren, Designer oder Innenarchitekten.

Die Motivation eines solchen Wagnisses liegt nicht im Geldverdienen. Die erforderlichen Umsätze und die Etablierung auf diesem speziellen Markt dienen umgekehrt einem übergeordneten Zweck: dem Erhalt dieser Unternehmen und der mit ihnen verbundenen Traditionen, Kenntnisse, historischen Gebäude, Ausstattungen und Maschinen.

Torsten Bäz und Peggy Wunderlich haben das technische und kreative Knowhow, die unternehmerische Erfahrung und vor allem auch die Entschlossenheit, diese beiden sächsischen Traditionsunternehmen zu erhalten und wieder zum Erfolg zu führen. Erfolg in diesem Zusammenhang kann nur bedeuten, sich international einen Namen zu machen – neben einigen wenigen im gleichen Segment etablierten Manufakturen wie die Weberei Egelkraut in Hessen, Tessitura Grassi in Bergamo, Luigi Bevilaqua oder Fortuny in Venedig, Sartor Bohemia in Prag (Import aus und Produktion in Indien/China) oder experimentellen Manufakturen wie Jacquard Lab in Mailand.

Peggy Wunderlich präsentiert die Leistungsfähigkeit ihrer beiden Webereien auf der Denkmal in Leipzig 2022
Realisierung eines modernen Designentwurfs, der mit flirrenden Moiré-Effekten spielt

Das Neue Textilzentrum Crimmitschau – alte und neue Dächer für die Fortführung der sächsischen Webtraditionen

Während die beiden Webereien von Wunderlich & Bäz auf zwei traditionelle Standorte verteilt sind, stehen andernorts in Sachsen großflächig historische Hallen der Textilindustrie leer oder sind, bestenfalls, museal genutzt. So zum Beispiel die Tuchfabrik Gebr. Pfau in Crimmitschau, eine der wenigen noch erhaltenen Fabriken, die sowohl das Garn sponnen als auch selbst zu Tuch verwebten.

Die gesamte Anlage der Pfau’schen Fabrik ist gut erhalten und mit staatlichen Mittel denkmalgerecht wiederhergestellt, insbesondere die Spinnerei ist von der postsozialistischen Maschinenstürmerei der Treuhand verschont geblieben und in Teilen noch funktionsfähig. Andere Gebäude wiederum stehen leer, wie die alte Wollwäsche, eine der ältesten Architekturen der Anlage.

Peggy Wunderlich und Torsten Bäz hoffen, den zuständigen Museumsverein, die Stadt Crimmitschau und das Land Sachsen davon überzeugen zu können, dass die Gebäude und Flächen der Crimmitschauer Textilfabrik die perfekte Heimat und das passende Umfeld abgäben für ihre beiden Jacquard-Webereien. Diese müssen dringend unter ein Dach, um wirtschaftlich geführt werden zu können.

Zugleich ist geplant, mit diesem neuen Textilzentrum in der Plauschen Fabrik auch ein modernes Textil-Labor zu errichten, in Kooperation mit der Hochschule Burg Giebichenstein und der Hochschule Schneeberg, zur Ausbildung der Studenten, als Experimental-Labor für Künstler und Designer und zur beruflichen Weiterbildung.

Der modernste Jacquard-Webstuhl, Baujahr 2000, der Seidenmanufaktur Eschke – mit begehbarem Obergeschoss. Deutlich zu sehen die grünen Steuerungsfäden für die Kontrolle jedes einzelnen der tausenden von Kettfäden.

Ein besonderes Problem dieses Umzuges besteht darin, dass die Jacquard-Webmaschinen Deckenhöhen von mindestens sechs Metern benötigen, wofür die meisten der historischen Fabriken nicht ausgelegt waren, auch in Crimmitschau nicht. Ein ergänzender Neubau ist erforderlich, inmitten des historischen Bestandes. Das stellt auch gestalterisch eine besondere Herausforderung dar.


Mit der Cammanschen Gobelin Manufaktur, der Seidenmanufaktur Eschke und dem Ensemble Tuchfabrik Gebrüder Pfau hat Sachsen somit die Chance, drei Traditionsbetriebe unter ein Dach zu bekommen und unter den Vorzeichen unserer Zeit als Produktions-, Forschungs-, Kreativ- und Ausbildungsstandort neu aufleben zu lassen. Weil das Ganze auch hier mehr ist als die Summe seiner Teile, sollte es gelingen. Für den Standort Crimmitschau eine nicht wiederkehrende einmalige Gelegenheit, für den Freistaat Sachsen eine Verpflichtung.

Jacquard-Weberei ist ein Rausch der Sinne.

Weitere interessante Artikel hierzu:

1) Digitalisierung und Webstuhl:
https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/der_webstuhl_ist_die_aelteste_digitale_maschine?nav_id=5139

2) Das Leben Jacquards:
https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Historisches_von_Graupp/JACQUARD

3) Haus der Seidenkultur Krefeld:
https://seidenkultur.de/historie/seidenmuster

4) zur Automatisierung der textilen Produktion: https://de.wikipedia.org/wiki/Jacquardmusterung

5) Geschichte der Seidenproduktion in Europa: https://fr.wikipedia.org/wiki/Histoire_de_la_soierie_à_Lyonhttps://fr.wikipedia.org/wiki/Histoire_de_la_soierie_à_Lyon

6) Ausbildung an modernen Jacquaerd-Maschinen:
https://campuls.hof-university.de/lehre/campus-muenchberg-neue-webmaschine-erweitert-moeglichkeiten-fuer-designstudierende/

7) die Steuerungstechnik moderner Jacquard-Webmaschinen:
https://www.staubli.com/de/de/textile/produkte/jacquardweben.html

8) Nachtrag zum in Seide gewebten Jacquard-Portrait:

„Jacquard, Joseph Marie (1752-1834).
Portrait in silk of Joseph-Marie Jacquard after an original oil portrait by Claude Bonnefond, manufactured by Didier, Petit et Cie; woven by Michel-Marie Carquillat (1803-1884) in Lyon, France, 1839. The image, including caption and Carquillat’s name, taking credit for the weaving, is 55 x 34 cm.; the full piece of silk including blank margins is 85 x 66 cm. The visible portion of the image in the frame is 72 x 54.5 cm., and the frame measures 104 x 84 cm. Minor wear from folding barely visible in the image, but with the image in clear, unfaded and fresh condition. The weaving was professionally treated by a textile conservator, whose conservator’s report and images of before and after are available. Minor flaws visible in the large outer margins of the silk, not affecting the image. In a large and attractive archival frame. This famous image, of which only a very few examples are known, was woven by machine using 24,000 Jacquard cards, each of which had over 1000 hole positions. The process of mis en carte, or converting the image details to punched cards for the Jacquard mechanism, for this exceptionally large and detailed image, would have taken several workers many months, as the woven image convincingly portrays superfine elements such as a translucent curtain over glass window panes. Once all the „programming“ was completed, the process of weaving the image with its 24,000 punched cards would have taken more than eight hours, assuming that the weaver was working at the usual Jacquard loom speed of about forty-eight picks per minute, or about 2800 per hour. More than once this woven image was mistaken for an engraved image. The image was produced only to order, most likely in a small number of examples. Recorded examples are those at the Metropolitan Museum of Art, the Science Museum, London, The Art Institute of Chicago, and the Computer History Museum, Mountain View, California, Musée de Tissus, Lyons.“

4 Gedanken zu „Schuss, Kette, Pixel – die Renaissance der traditionellen Jacquard-Weberei in Sachsen“

  1. Vielen Dank für die umfangreiche, solide und herzliche Beschreibung unserer Arbeit und auch die klare Formulierung der bevorstehenden Herausforderung.
    Wir kämpfen weiter zusammen um den Erhalt hervorragender bestehender Güter, um Zukunft gestalten zu können.
    Das Cammann & Seidenmanufaktur Team

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