Die Denkmalpflege und ihre Zwei-Klassen-Gesellschaft

Der klassische Denkmalbegriff ist ein Fossil und ignoriert die Wirklichkeit unserer Städte.

Ein Beitrag zum 100. Geburtstag des Kunsthistorikers Willibald Sauerländer am 29.2.2024

von Jan Kobel, Februar 2024

Foto: Stadt als Wüste. Gelsenkirchen, 2024 (Foto: Ramon Schack)

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Die Denkmalpflege kann die Versäumnisse der Stadtplanung nicht ersetzen.
(Holger Reinhard, Landeskonservator Thüringen, 2023)

In den 60er Jahren wurde es unübersehbar, dass Substanz und Lebensqualität der deutschen Städte durch die Praxis des „Wiederaufbaus“ massiv bedroht waren. Zu jenen, die damals eine Neuorientierung der Denkmalpflege forderten, gehörte der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer (1924 Waldsee – 2018 München).

Vor knapp 50 Jahren, anläßlich des Europäischen Denkmalschutzjahres 1975, hielt Sauerländer vor Vertretern der westdeutschen Landesämter in diesem Kontext einen weitblickenden Vortrag zu grundsätzlichen Fragen des Denkmalschutzes. Titel des Referats: „Erweiterung des Denkmalbegriffs?“

1.
Willibald Sauerländer und seine Provokation der amtlichen Denkmalpflege

Das Herausragende an Sauerländers Vortrag war, dass er einem Kongress, der sich dem Motto Eine Zukunft für unsere Vergangenheit verschrieben hatte, mitteilte, dass genau dieses Motto die Widersprüche ignoriere, in die die Denkmalpflege hingeraten sei. 

Die Devise, so Sauerländer, sei nicht mehr 

Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ – denn das wäre ja immer noch der alte Historismus – sondern umgekehrt: nur mit bewahrter Vergangenheit eine urbane Zukunft. (…) Praktisch hieße das, die alten Stadtquartiere in Kenntnis ihrer erloschenen historischen Funktionen, aber unter Nutzung von deren Zeichengefüge habitabel für die Bewohner von heute zu machen.(1)

Die „Erweiterung des Denkmalbegriffs“, die Sauerländer hier vorschlug, war somit nicht nur gedacht als Erweiterung des Kanons schützenswerte Objekte (Industriebauten, Siedlungen der 20er Jahre, technische Denkmale etc.), sondern als eine Umdrehung der Perspektive: Vielleicht hat das Denkmal doch gerade als baugeschichtliches Monument eine besondere Bedeutung für die zukünftige Nutzbarkeit und die Gestaltung urbaner Räume?

Erst wenn das Stadtquartier als ein umfassendes System gestalteter Sozialbezüge erfaßt wird (…) – Nachbarschaft, Anwurzeln, zu Hause Fühlen mit der Kneipe nebenan und dem Laden an der nächsten Ecke, dann in Spannung dazu der große Platz, die Öffentlichkeit der profanen Monumentalbauten und Kirchen – kann sich das sogenannte Stadtdenkmal aus der dokumentarischen Erstarrung lösen und in aktivierende, urbane Erinnerung verwandeln.(1)

Willibald Sauerländers Vortrag von 1975 war eine „Provokation“ (Ingrid Scheurmann), die von der traditionellen Denkmalpflege (Gottfried Kiesow et.al.) zurückgewiesen wurde als „medizinisch-therapeutischeEifer“, mit dem Sauerländer und andere versuchten, „Denkmalpflege auf städtebaulich-soziale Belange zu konzentrieren“. Auch sei die Denkmalpflege „schon immer dem Menschen (…) verpflichtet gewesen“.(2)

Die Provokation bestand darin, die denkmalpflegerische Kategorie des „Kulturdenkmals“ in Frage zu stellen. Die Klassifizierung eines Baus als Kulturdenkmal ist ganz bewußt erstmal eine unpraktische, die sich mit Fragen der Nutzung oder sozialen Bedeutung für ein Stadtquartier nicht beschäftigt. Ein Kulturdenkmal ist per se ein Wert, ein kulturelles Erbe, wie ein Gemälde von Raffael, und stellt als solches eine Verpflichtung dar, es zu erhalten.

Eine Verpflichtung aber ist das Gegenteil eines Angebots, und kann im Bereich des baulichen Bestandes nur selektiv ausgesprochen werden. Kulturelles Erbe bedeutet Einschränkung und Kost, die man sich leisten können muss.

Heute erkennen wir langsam, unter dem Eindruck der Verluste der ungeschützten baulichen Substanz unserer Städte, den Wert dieses Erbes auch für Stadtentwicklung und Attraktivität eines „Wirtschaftsstandorts“, für Gastronomie und Einzelhandel. Die Übergänge sind fließend.

Ingrid Scheurmann (*1954) resümiert 40 Jahre später in Ihrem Aufsatz Erweiterung als Erneuerung. Zur Kritik des traditionellen Denkmalbegriffs im Denkmalschutzjahr 1975:

Die Fachvertreter (haben sich) der in den späten 1960er Jahren angestoßenen Grundsatzdiskussion weitgehend entzogen und den Positionen der Kritiker auch hernach kaum Aufmerksamkeit geschenkt. (…) Stattdessen sind in den 1980er Jahren die Texte von Georg Dehio oder Alois Riegl aus der Zeit um 1900 neu ediert und der breiten Fachöffentlichkeit als nach wie vor verbindliches Fundament des Faches präsentiert worden („Konservieren, nicht restaurieren“). (…) Das Beharren auf der Gültigkeit der um 1900 definierten Werte und die Absage an jedwede Relevanzdiskussion hat die Denkmalpflege gesellschaftlich wie wissenschaftlich tendenziell ins Abseits gerückt.(2)

2.
Die klassische Denkmalpflege – Legitimation einer Abrisskultur

Sauerländer forderte von der Denkmalpflege, dass sie ihre Aufgabe zukünftig darin sehen solle, die immer weiter anwachsende Menge erhaltenswerter Architekturen als Angebot für die zeitgenössische Stadtentwicklung zu vermitteln. 

Mit dem von ihm geforderten Übergang der Denkmalpflege in ein Moment von Stadtentwicklung ist nicht nur das Kriterium des „Kulturdenkmals“ relativiert, umgekehrt erweitert sich der Kreis der schützenswerten Architekturen tendenziell um so ziemlich alles, was jemals gebaut wurde und heute noch steht. 

Willibald Sauerländer, Bleistift auf Papier, 2017, mit freundlicher Genehmigung von © Sybille Moser-Ernst

So wie die Jugend – hausbesetzend und rebellisch gegen das „Establishment“– seit Jahrzehnten durch ihr Schwarmverhalten darüber abstimmt, welche historischen Bauten und urbanen Quartiere cool, nutzbar und wertvoll sind (die der Gründerzeit und des Jugendstils nämlich, mit Blockrandbebauung und Hinterhof), und so wie das Bürgertum, das in die Stadtbilder der Gründerzeit seine Sehnsüchte projiziert, für Rekonstruktionen plädiert, so ruft Sauerländer den in Goslar versammelten Honoratioren der Denkmalpflege zu:

Nur eine Denkmalpflege hat Sinn und Chance, die die geheimen und offenen Wünsche der Bürger zu ihrer Sache macht. (…) Es gilt abermals das Angebot zu aktivieren, welche die Überreste gründerzeitlicher Architektur an die Stadt von morgen machen. (1)

Wenn nun aber die einst so verachtetete Gründerzeit ein Angebot darstellt, um das sich die Denkmalpflege zu kümmern habe – und aus heutiger Sicht können wir hinzufügen: und die klassische Moderne, die Postmoderne, der DDR-Plattenbau und was sonst noch irgendwann in die Jahre gekommen und sentimental konnotiert sein wird –, dann reden wir nicht mehr von „Kulturdenkmälern“ und ihrer „Pflege“, sondern von irgendetwas anderem, angesiedelt im Dreieck zwischen Stadtplanung, Soziokultur und Kulturgeschichte. 

Eine Art Stadtbewahrung durch Neuerschließung des Bestandes.

Vielleicht könnte, unter einer Bestand bewahrenden Stadtplanung, in der – so wie früher – Neubau die Ausnahme und Erhalt, Umbau und Umnutzung die Regel wären, eine Denkmalpflege ihren traditionellen Begriff vom herausragenden Kulturdenkmal aufrechterhalten. In der asozialen Ödniss, die die meisten der deutschen Städte heute repräsentieren, gerät dieser Begriff jedoch zur Schönfärberei des Kahlschlags, zur Ablenkung im Namen des kulturellen Erbes von einer städtebaulichen Katastrophe. 

Der bauliche Bestand unserer Dörfer und Städte hat keine andere Fach -Lobby oder gesellschaftliche Autorität als die Denkmalpflege, wer sonst soll für ihn sprechen? Sie aber erklärt sich explizit für nicht zuständig und verweigert die Fürsprache. So formuliert sie eine „Zwei-Klassen Gesellschaft“ im baulichen Bestand: das edle „Kulturdenkmal“ und den schäbigen Rest.

Mit dieser Sortierung schaut die Denkmalpflege der Zerstörung dieses nicht-schützenswerten Bestandes nicht nur zu, sie macht sich – gewollt oder ungewollt – zur Legitimierungsinstanz derselben. Sie ist nicht Subjekt dieser Abrisskultur, aber de facto ihre moralische Bestätigung. Mit jeder Ernennung eines Gebäudes zum Kulturdenkmal teilt sie über den nicht geschützten Rest mit: Das kann weg!

Der politische Liberalismus, der dazu neigt, Denkmalpflege als rückständig und hinderlich zu betrachten und sie am liebsten komplett abschaffen würde, dankt ihr dieses „Greenlightning“ seiner Abrisswut nicht. Er sieht es genau andersherum: Alles hat sich dem Gesichtspunkt des Geschäfts unterzuordnen, nichts gehört geschützt!

So bläst den Landesämtern dort, wo sie um den von ihnen gelisteten Bestand kämpfen müssen, ein harter Wind entgegen. Mit der Folge, dass sie in ihrem Kampf um Finanzierung und Anerkennung, wie Roland Günter (*1936) es formulierte, „opportunistisch“ werden und auch mal Objekte aus den Listen nehmen, wenn der politische Druck zu groß wird.(3)

3.
Die Degradierung der Denkmalpflege zur Orchideenwissenschaft 

Sauerländers Absage an den tradierten Begriff von Denkmalpflege ist somit genau besehen eine Absage an die heutige Praxis von Stadt(nicht)planung: an eine Baukultur also, die den Bestand als Störfaktor, dessen Erhalt als Luxus und dessen Ästhetik als unerträglich bewertet.

Denn – allen Dementis und „Postmodernen“ zum Trotz – noch immer herrscht der verblendete und selbstgerechte Geist der Moderne: die Negation des Bestandes, „von dem uns nichts bleibt“ (Le Corbusier) (4), die Verachtung gründerzeitlicher Architektur als „Gehäuse“, in die wir nicht zu „kriechen“ haben (Hans Scharoun) (5), die populäre Verwechslung des Alten mit dem Veralteten, die Verwechslung der tabula rasa mit einem Neustart, die Verehrung des Neubaus als einzig gültigen Ausweis eigenen Schaffens. 

„Wichtig ist, dass die Brille kreisrund, dick und schwarz ist.“

Wie soll Denkmalpflege in einer Umgebung bestehen, für das jeder Eingriff in den Bestand nur im Abriss, bestenfalls in einer möglichst umfassenden modernistischen Überformung bestehen kann? Wie kann Denkmalpflege ihren schützenden Schirm aufspannen, wenn es links und rechts davon – Entstuckung, Fassadendämmung, Isolierglasfenster, Glaspaläste – nur um die stolze Vernichtung der Spuren von Geschichte geht? Wenn die von ihr tapfer verteidigten Kulturdenkmäler, wie Sauerländer schreibt, in einem Umfeld 

unurbane(r) Bauten versinken, die in unseren Städten rapide und massenhaft nicht gestaltet und nicht geformt, sondern nur noch auskalkuliert und dann wie Anhäufungen von schlechtem Verpackungsmaterial aufgestellt werden.(1)

Heute, mit der Erfahrung zweier Generationen später, könnten wir ergänzen:

Es ist müßig zu diskutieren, was „die Denkmalpflege“ tun kann. Denn erstens ist das Versagen von Stadtplanung tatsächlich nicht primär ihr Versagen, und zweitens hält sie sich nicht für zuständig. Über das Kulturdenkmal hinausgehende Verantwortung lehnt sie ab.

Erforderlichen ist vielmehr ein gesellschaftlich-kultureller Umbruch, der heute, 2024, spät und langsam erste zarte Knospen treibt in einigen Universitäten, Fachhochschulen oder Institutionen – Haus der Erde des BdA, Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen, Architektur-Rebellion –, und der tief eingreifen wird müssen in die DNA einer seit 1945 modernistisch und liberalistisch geprägten Gesellschaft voller Verachtung für den baulichen Bestand.(6)

Unter den vielen, die seit Jahrzehnten vergeblich gegen diese verblendete Verachtung des Bestandes ankämpfen, muss neben dem schon erwähnten Roland Günter aus NRW, dem großen Kämpfer für den Erhalt der Industriekultur links und rechts des Rheins(3), vor allem der bayrische Filmemacher Dieter Wieland (*1937) erwähnt werden, der in unnachahmlicher und messerscharfer Weise die Zerstörung der Städte und Dörfer analysierte und nie ein Blatt vor den Mund nahm. Sein Interview über die Praxis der Denkmalpflege und die modernen Architekten, die alle in Altbauten wohnen, ist ein must see!

Heinrich Klotz (1935 Worms – 1999 Karlsruhe), hatte diese scheinbar unüberwindbare Hürde in den Köpfen dieser modernistischen Gesellschaft nicht ohne Bitternis beklagt, als er 1985 schrieb:

Aus der Geschichtsfeindlichkeit (Deutschlands, d.V.) wird am Ende eine besondere Art des Fortschrittsglaubens, der jede Korrektur am absolut gesetzten Fortschrittsbegriff sogleich als Fluchtbewegung entlarven möchte. Die Verbissenheit, mit der wir die alte Moderne verteidigt haben, ist nicht nur ideologisch, sondern hat psychopathologische Züge.(7)

Hinzu kommt der aufkeimende Verdacht, dass sich die modernistische Verweigerung des schlichten Wiederaufbaus der deutschen Städte nach historischen Plänen auf’s Beste verband mit der kontinuierlichen Präsenz der Speer’schen Planer in den Bauämtern der Städte. Auf den wichtigen Beitrag von Dirk Schümer in der F.A.Z. vom 10.8.2023 sei hier verweisen.(8) 

In der stillschweigenden Hinnahme dieser Baukultur, tief verwurzelt im ästhetischen, moralischen, kulturellen und sozialen Empfinden von Architekten, Bauherren, Planungs- und Genehmigungsbehörden, hat die Denkmalpflege sich selbst zur Orchideenwissenschaft erklärt: Schön, teuer, disfunktional.

4.
Die Baukultur der Moderne: Abstraktion zerstört Wirklichkeit

Müssen wir es zulassen, dass tendenziell jeder als unbedeutend eingestufte oder kulturhistorisch schlichtweg nicht bewertete Bau zum Abriss freigegeben ist – gegen eine schlichte Anzeige der „Rückbau“-Absicht bei der Bauaufsicht, wie es bis heute das Baurecht verlangt?

Ist diese Praxis nicht, wie man uns entgegenwirft, nur die Fortsetzung einer Jahrtausende übergreifenden Gepflogenheit? Haben nicht die jüngeren Generationen immer schon die Bauten der Altvorderen geschliffen und umgebaut, wie es ihnen gerade passte? Überformte die Gotik nicht die Romanik, der Barock nicht die Renaissance, der Jugenstil nicht den Klassizismus? 

Ja, das taten sie. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass diese wechselvolle Baugeschichte immer und überall geprägt war durch folgende drei Merkmale:

1. Es war das Handwerk und Kunsthandwerk, das alle Bauten errichtete und umbaute.
2. Diese Bauten- und Umbauten waren stets Ausdruck einer jeweils lokalen oder regionalen Bautradition und Kultur.
3. Die verfügbaren regionalen Materialien gaben den Rahmen allen Bauens vor.

Deshalb empfinden wir auch heute in jedem intakten historischen Zentrum das Nebeneinander der Architekturen aus diversen Epochen nicht als Bruch, sondern als angenehme Abwechslung: bei aller Heterogenität verbindet diese Architekturen ihre Gemeinsamkeit als handwerklich mit regionalen Materialien errichtete Bauten.

Das Zeitalter der Internationalisierung der Baukultur, der Globalisierung der verfügbaren Resourcen (auch der planerischen) und der Industrialisierung der Bautechniken markiert einen Bruch, der härter kaum ausfallen könnte. Von Shanghai bis Sao Paolo entstehen dieselben „Verpackungsmaterialien“, ein InternationaleStil par excellence, der überall lokale Traditionen ignoriert, Geschichte negiert und in der industriellen Eintönigkeit der von ihm geschaffenen Räume den Menschen wenig mehr bietet als ein Dach über dem Kopf. 

Eine Illustration des Bewegung Architectural Uprising, 2016 in Schweden gegründet. Sie ist auf Facebook und Instagram sehr aktiv.

Dieser Bruch vom handwerklichen zum industriellen Bau vollzieht sich immer noch. Er begann im 19. Jahrhundert mit den ersten industriell gefertigten Bauelementen und wird enden mit dem Fertighaus aus dem 3D-Drucker. 

Noch in den 50er Jahren wurde in Deutschland gebaut mit Blockziegeln aus traditionellen Ringbrandöfen, der Kalkmörtel vor Ort gemischt, und die lokalen Tischler lieferten die Fenster und Türen, gefräst mit den lokalen Profilwerkzeugen ihrer Großväter. 

Nach und nach aber, in einem Jahrzehnte überspannenden Prozess, ergreift die Industrialisierung nicht nur die Techniken des Bauens, sondern auch deren Ästhetik. Steine, Putze, Klinker verlieren jeden lokalen Bezug und jedes Farbenspiel, Gipskarton, abgehängte Decken und Wärmedämmverputz-Systeme verbergen die bauliche Substanz und deren Geschichte, Kunststoffe und Bauschäume machen Holz und Hanf überflüssig – nur im Laminat-Holzimitat darf die Erinnerung an Holz als Baustoff weiterleben. Als „Optik“.

Hegel hat irgendwo geschrieben, dass Abstraktionen verwirklichen zu wollen die Wirklichkeit zerstört.

Die Baukultur der Moderne zerstört jeden Raum, indem sie ihn zu einem Raum an sich „reduzieren“ möchte: rechtwinkelig, glatt, uniform. Die Kuben dieser Baukultur unterscheiden sich nur noch durch die geometrischen Maße – innen wie außen, ohne einen Bezug auf irgendwas. Keine Region, keine Geschichte, keine Tradition, kein Material ist zu sehen oder zu spüren. Alles bitte in reinem Titanweiß, fleckenfrei wie die Jungfrau und strahlend wie die Verheißung. Materialität: Sondermüll.

Es ist, als gäben die Erzählungen der Moderne mit ihrem Fetisch der Befreiung von allem „Zierrat“, dem Kult der „Reduktion“ oder „Sachlichkeit“ die perfekte ideologische Begleitmusik zu den Entwicklungen einer möglichst alles uniformierenden und kapitalistisch kalkulierenden internationalen Bauindustrie. Diese dankt und wacht im übrigen sorgsam darüber, dass nichts, was ihre Hallen verlässt, jemals sinnvoll wiederverwendet werden kann. 

Am wenigsten die industriell errichteten Bauten selbst. 

Denn die einst so zukunftsverheißenden Bauten, deretwegen die deutschen Innenstädte nach dem Krieg endgültig zerstört wurden, fallen nun dem gleichen Geist zum Opfer, der sie einst errichtete. Die Revolution der Moderne frißt ihre Kinder – was, nebenbei bemerkt, das Gros der deutschen Architekten empört und plötzlich zu Bestandsbewahrern mutieren lässt. Es ist halt kein „entarteter Jugenstil“, was nun an Architektur der 60er, 70er und sogar 80er Jahre reihenweise im Feuer steht.

5.
Das Ende des handwerklichen Baus als baugeschichtliche Zäsur

Heute stimmen wir, die wir kritisch über Stadt und Architektur nachdenken, mit Willibald Sauerländer und vielen anderen, die sich seit Jane Jacobs (1916 Scranton – 2006 Toronto)(9) dem Thema Urbanität verschrieben haben, darin überein, dass Architektur Zeichen setzen, Raum und Geschichte verorten, soziales Leben erzeugen und den Menschen Freude, Geborgenheit und Halt geben kann und muss.

Die europäische Stadt war ursprünglich einfach gewachsen, wie Landwirtschaft, Handel und Sicherheit es verlangten und wie Handwerk, Tradition und Baumaterial es hergaben. Sie wuchs erst sehr langsam. Dann, im 19. Jahrhundert, als die Städte durch die Industrialisierung aus allen Nähten zu platzen drohten, wußten jene, die tatsächlich neue Stadtquartiere auf dem Reißbrett planten, was eine Stadt lebenswert macht: Arkaden, Kolonnaden, Alleen, Rondelle, Boulevards, vor allem auch viel Grün, Bäume und Parkanlagen. Wo unsere Städte heute noch schön sind, verdanken wir es den Planern der Gründerzeit.

Was das Baurecht betrifft, war man sich dabei stets der Notwendigkeit einer Identität in der Diversität bewusst, auch in den USA, wie in den einschlägigen Quartieren Brooklyns bis heute zu beobachten. Die Stadtbaudirektoren dieser Zeit, meist weitgereiste und hochgebildete Bauhistoriker, gaben für jeden Straßenzug vor, wie, womit, wie hoch und mit welchen verbindlichen Elementen (Souterrain, Traufgesims) ein Architekt seine Entwürfe zu gestalten hatte. Der Vielfalt hat es nie einen Abbruch getan. Im Gegenteil.

Aus dieser Perspektive erscheinen uns heute die historischen Bestände in dreifacher Hinsicht wertvoll:

Einmal leben in ihnen diese urbanen Strukturen fort, sie können einer verständigen Stadtplanung Halt und Ausgangspunkt sein bei der Weiterentwicklung, Umnutzung und Neudefinition der Quartiere. 

Zweitens sind diese Bauten als handwerklich errichtete Bauten Unikate von hoher baulicher – wenngleich nicht unbedingt kunsthistorischer – Qualität, die als massiver Ziegelbau oder Natursteinmauerwerk, als Fachwerk oder Betonbau beplant und umgenutzt werden können. Selbst wenn das Dach eingefallen ist und nur noch eine Außenhülle steht, kann eben diese Ausgangspunkt neuen planerischen Denkens sein.

Drittens sind diese Bauten, gerade auch dort, wo Verfall und Vernachlässigung ihre Spuren hinterlassen haben, Zeugen einer inzwischen mindestens einhundertjährigen Geschichte: von den Spuren schwerer Geräte auf den alten Estrichböden bis zu den Grafitti der jüngsten Vergangenheit. 

Ein überzeugendes Beispiel, was aus einer Ruine werden kann, ist das Neue Museum auf der Museumsinsel in Berlin. David Chipperfield und Julian Harrap haben ein Sanierungskonzept realisiert, das Konservierung, Rekonstruktion, Geschichte, Neubau, ästhetische Gestaltung und neue Nutzung in beeindruckender und wohldosierter Weise miteinander verbindet.

Die Kombination aus all diesen drei Aspekten historischer Bauten – Stadtgeschichte, Bausubstanz und Baugeschichte – ist es, die diese Architekturen in den Augen vorausblickender Planer und Bauherren unersetzbar und wertvoll macht. Die bis gestern so verachteten Industriearchitekturen mutieren dabei aufgrund ihrer Kubaturen und Nutzflächen – zusammen mit den dazugehörigen großflächigen Aussenarealen – zu den spannendsten Objekten der Quartiersentwicklung.

Die Kombination von Respekt vor dem Bestand und Nutzbarmachung für zeitgemäße Zwecke erzeugt dabei stets jene Aura und Einmaligkeit, die der reine Neubau zu erzeugen heute nicht mehr in der Lage ist. 

Reiner Nagel, Vorstand der Bundesstiftung Baukultur, hat in einem Interview für diese Qualität von Architektur den schönen Ausdruck „Goldene Energie“ geprägt – als einen weiteren wichtigen Aspekt für den Erhalt neben der vielzitierten „Grauen Energie“.(10) Handwerklich errichtete Bauten geben uns Kraft. 

Dehios Konservieren statt Sanieren findet bei einer solchen Haltung des Respekts vor den Bauten der Vergangenheit im übrigen wie von selbst seine Beachtung. In den hippen Quartieren der Metropolen kann man sich davon überzeugen. Die wenigsten der jungen Leute, die dort ihre Läden, Bistros oder Cafés einrichten, haben vermutlich je von Dehio gehört.

Theoretisch ist dieser Prozess der behutsamen Umnutzung mit jedem historischen Bestandsgebäude machbar, sobald es einmal leer steht. 

Aber welchen Wert werden wir zukünftig einer Vollverkleidungs-Architektur, den Lidl- und Rewe-Hallen, den hoflosen und mit dem Salzstreuer verteilten Wohnblöcken und WDVS-gedämmten Seniorenresidenzen entgegenbringen? Haben diese überhaupt, hinter all dem Trockenbau und abgehängten Decken, eine bauliche Substanz, die man umnutzen kann? Welche Kosten werden mit den Massen von nicht recyclefähigem Sondermüll verbunden sein, die eine Entkernung mit sich bringt? Werden diese Gebäude in unseren Kindern und Enkeln Emotionen erwecken? 

Oder wird mit der Industrialisierung der Baukultur, die der Kunst der Putzer, Maurer, Stuckateure, Tischler, Zimmerleute, Mosaikleger, Terrazzisti oder Steinmetze nur noch die Nische der Restauration überlassen hat, Architektur zur Wegwerfarchitektur?

Sie würden so nicht bauen, aber es war da. Also haben sie daraus gemacht, was man daraus machen kann. Jetzt ist es schön, weil es gut ist: Palais Brut in Brandenburg https://www.urlaubsarchitektur.de/de/palais-brut/

6.
Von der Pflege des Denkmals zur Wahrung des Bestand

Stellen wir nun also abschließend Willibald Sauerländer vom Kopf auf die Füße. Was lebenswerte Städte brauchen, ist ein Umbruch weniger der Denkmalpflege als der Stadtplanung, eine neue Ausrichtung derselben insofern, als sie 

1. die Mängel der von ihr bis dato mitgetragenen Baukultur im Sinne einer lebendigen und sozialen Stadt erkennt, 
2. das Vorbild einer historischen Stadtentwicklungsplanung, wie sie noch bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts aktiv war, anerkennt, und 
3. den Erhalt des historischen, stets handwerklich errichteten Bestands sich zum Grundsatz macht.

Dieser Bestand sollte zum Anker einer echten Stadtentwicklung werden. Voraussetzung dafür ist, dass die zuständigen Behörden wieder beginnen, zehn, zwanzig oder auch dreissig Jahre in die Zukunft zu planen und zu definieren, was, wo, wie entstehen kann und soll – getrennt von den Begehrlichkeiten der Stadträte, Investoren und Grundstücksbesitzer. Voraussetzung dafür ist auch die Bereitschaft, Leerstand zu akzeptieren, zu sichern und zu pflegen. 

Langsam beginnen die Parameter sich zu verschieben. Wenn eine ganze Fachhochschule aus Erfurt entsetzt erleben muss, wie ein Minister stolz zwei Millionen Euro überreicht für den Abriss einer ehemaligen Schokoladenfabrik, dann passiert etwas mit den Studentinnen und Studenten dieser Hochschule. Monatelang hatten sie sich für deren Erhalt und Umnutzung den Kopf zerbrochen, Aufmaße erstellt, Dokumentationen geschrieben und Broschüren binden lassen, die Unterschutz-Stellung beantragt und versucht, Gehör zu finden. Vergeblich.(11)

Die alte Schokoladenfabrik in Greussen, direkt am Bahnhof gelegen, stand nicht unter Denkmalschutz. Der Antrag auf Unter-Schutz-Stellung wurde abgelehnt, da der eingetretene bauliche Verfall dieser Architektur ihre „Denkmalwürdigkeit“ genommen habe. 

Ein Begriff, den das Denkmalschutzgesetz gar nicht kennt.
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  1. Willibald Sauerländer, Erweiterung des Denkmalbegriffs?, in: Denkmalpflege 1975, Hannover 1976
    https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/monumenta/article/download/84359/78723
  2. Ingrid Scheurmann, Erweiterung als ErneuerungZur Kritik des traditionellen Denkmalbegriffs im Denkmalschutzjahr 1975, in: Bd. 3 (2015): Michael Falser, Wilfried Lipp (Hrsg.): Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Zum 40. Jubiläum des Europäischen Denkmalschutzjahres (1975–2015), Berlin 2017
    https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/monumenta/article/view/42411
  3. Roland Günter, Ein Beispiel von AltersradikalismusEin Gespräch zum achtzigsten Geburtstag mit Roland Günter. Interview von Susanne Abeck, forum Gechichtskultur Ruhr 02/2016
    http://www.roland-guenter-werke.de/Content.aspx?pageID=16
  4. Rainer Haubrich, Was von Le Corbusier bleibt, ist epochales Scheitern, Die WELT vom 27.8.2015
    https://www.welt.de/debatte/kommentare/article145676031/Was-von-Le-Corbusier-bleibt-ist-epochales-Scheitern.html
  5. Senatsverwaltung der Stadtentwicklung, Alexanderplatz Berlin Mitte – Auslobung, Berlin 2003
    https://digital.zlb.de/viewer/api/v1/records/15689382/files/images/Auslobung_alex.pdf/full.pdf
  6. Zur Verachtung des historischen Bestandes siehe:
    https://stadtrandnotiz.de/2020/12/31/schandfleck-zur-ideologie-der-moderne-in-deutschland/
  7. Heinrich Klotz, Moderne und Postmoderne, in: Wege aus der Moderne, Herausgegeben von Wolfgang Welsch, Berlin 1994
    https://dokumen.pub/qdownload/wege-aus-der-moderne-schlsseltexte-der-postmoderne-diskussion-9783050071374-9783050027890.html
  8. Dirk Schümer, Frankfurt ist ein verlorener Ort, F.A.Z. vom 10.8.2023
    https://www.welt.de/kultur/plus246815970/Frankfurt-Ein-verlorener-Ort.html
  9. Jane Jacobs, The death and Life of Great American Cities, New York City 1961
  10. Reiner Nagel, Interview mit www.urlaubsarchitektur.de, 2024:
    https://www.urlaubsarchitektur.de/de/positionen-touristische-infrastruktur-als-standortfaktor/
  11. Zur ehemaligen Schokoladenfabrik in Greußen:
    https://stadtrandnotiz.de/2022/01/07/die-schokoladenfabrik-greussen-darf-nicht-abgerissen-werden/#more-4018

5 Gedanken zu „Die Denkmalpflege und ihre Zwei-Klassen-Gesellschaft“

  1. Der Umgang mit dem Erbe, gerade bei Bauten sagt tatsächlich sehr viel über die vorherrschende Geisteshaltung – und ihren Zerfall – aus. Das ist einer der Punkte, bei denen auch Linke im besten Sinn Wertekonservativ sein müssen.

    1. Sehe ich auch so. „Konservativ“ ist in politischer Hinsicht sowieso ein völlig irrer Begriff. Als wolle die Rechte immer alles bewahren und die Linke immer verändern.
      Wenn schon, ist es eher andersrum.

  2. Nachtrag:
    Der oben zitierte Roland Günter schrieb unter anderem, wenig diplomatisch, über die Gesetzgebung und die Zuständigkeiten in Sachen Denkmalpflege seit den 80er Jahren:
    „Die Landeskonservatoren wurden entmachtet und die Entscheidungen an die Städte delegiert. Pseudodemokratisch, denn damit ist der Denkmalschutz unter die Mafien gefallen. Denn wer sitzt in den Stadtparlamenten? Da bekommst Du doch das Grauen. Heute sind die Denkmalämter vor die Hunde gekommen, sie schwimmen im Opportunismus und arbeiten zum Teil mit überholten Kriterien. Außerdem: Auf bestimmte Dinge kommt man nur, wenn man grundlegend zu denken weiß.“
    (Ein Beispiel von Altersradikalismus. Ein Gespräch zum achtzigsten Geburtstag mit Roland Günter. Interview von Susanne Abeck, forum Gechichtskultur Ruhr 02/2016
    http://www.roland-guenter-werke.de/Content.aspx?pageID=16)

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