Wir durften schonmal reinschauen, in die documenta fifteen, wo sie Kunst als kollektiven Resonanzraum des sozialen Lebens feiern – und den elitären Kunstmarkt einfach aussperren
Titelbild:
Demonstrationspappen aus Indonesien, auf der diesjährigen documenta in kollektiver Dauerproduktion
Jan Kobel, 16.6.2022
Die Kunst ist das eine, ihre Vermarktung das andere. Soll heißen: Kunst kann alles mögliche sein, aber der Kunstbetrieb, das ist doch eine klar definierte Sache.
Die funktioniert so: Die Kuratoren der bedeutenden Museen und die großen, zumeist angelsächsischen Galeristen wachen über die Zugänge zum Heiligen Gral, zu den mit Milliarden Dollar gefüllten Töpfen der Sammler und Sammlungen. Sie suchen natürlich nur „die Besten“, die Elite der Kunstwelt, die ihr Geld wert sind, und die will erst einmal definiert sein.

The Winner Takes it All, was sonst, der Rest darf an die Volkshochschule. So muss das sein, denn erst der Existenzkampf der erfolglosen Künstler gibt den Handverlesenen die AURA DES GENIALEN. Zwischen Elite und Looser ist nur wenig Platz, und der wird auch immer enger. Niemand hat dich gezwungen, Künstler werden zu wollen.
Größenwahn und Scham, Rausch und Einsamkeit, Starkult und Verachtung – das ist die Welt des kapitalistischen Kunstbetriebs und all derer, die dazugehören wollen, bis nach China. Das Business ist wirklich Big und die Verlockungen sind groß. Aber: Die diesjährige documenta will das nicht!
Den Machern der diesjährigen documenta fifteen gefällt der Kunstmarkt nicht
Sie kommen überwiegend aus dem Globalen Süden, und dort steht die Kunst – immer noch, glaubt man den documenta-Machern – in einem anderen Kontext. Der Name des Künstlers ist sekundär, das einzelne Kunstwerk hat eine soziale Funktion. In den asiatischen und afrikanischen Ländern, aus denen die Mehrzahl der Künstlerkollektive kommen, die die Kasseler documenta 2022 gestalten, ist Kunst nicht exklusiv, sondern inklusiv; nicht genial, sondern didaktisch; nicht elitär, sondern im Alltag der Menschen verankert.

Hier ist Kunst stets Resonanzraum der Probleme der Menschen, ebenso Ausdruck eines gemeinsamen kämpferischen Willens der Selbstbehauptung, als soziales Ereignis zugleich auch Anlass zum Feiern. Reich wird hier keiner, aber alle tragen etwas bei zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme – als Kollektiv. Schön, wenn das so funktioniert. In diesem Sinne lädt die documenta ihre Besucher ein, sich auf diesen etwas anderen Begriff von Kunst einzulassen.
Die Stadt Kassel hat als Veranstalter der documenta ein Künstlerkollektiv aus dem fernen und unbekannten Indonesien eingeladen, dessen Namen man sich merken kann: Ruangrupa. Die Namen der einzelnen Kuratoren merkt sich schon keiner mehr, werden auch kaum kommuniziert, ebensowenig die der zahlreichen Künstler dieser documenta. Dieses Kollektiv wiederum hat dutzende weitere Kollektive nach Kassel geholt, und alle zusammen haben in einem langen Prozess (meist online, wg. Corona) besprochen, wie sie die Hallen und Flächen füllen und was sie den Besuchern aus aller Welt mitteilen wollen.

Es geht um Gewalt und Unterdrückung, um Landraub und Rassismus, um Zerstörung von Lebensbedingungen und um traditionelles Handwerk – als Gegenstand eines künstlerischen Schaffensprozesses. Im Gestus des europazentrierten Exzeptionalismus würde man die überwiegende Bildsprache als „naiv“ bezeichnen, die künstlerische Absicht als „didaktisch“. Auf jeden Fall ist diese Kunst immer gegenständlich und sozial relevant.

Es gibt kein herausragendes Kunstwerk, kein Name beherrscht die Feuilletons
DAS zentrale Kunstwerk dieser documenta gibt es nicht, auch nicht DEN oder DIE herausragende Künstlerin, zum Bedauern der in Heerscharen in Kassel einfallenden Fachleute. Dafür massenhaft bunt und lustig (oder auch mal traurig) bemalte Pappen, sehr viel Text und Parolen sowie Wohnlandschaften aller Art. Das gemeinsame Malen und Kunstmachen fungiert wie gemeinsames Musizieren und Singen, die (leider noch viel zu wenig) besetzten Fabrikhallen im Osten der Stadt ähneln Kunsthandwerkermärkten, und das Friedericianum ist eine Mischung aus Erklär-Bär-Täfelchen und Tunix-Festival auf Europaletten.


Alleine alle Videos dieser documenta bis zum Ende anzusehen dauert gefühlte 100 Stunden. Soll man aber auch garnicht, sagen die Kuratoren. Sondern einfach bleiben und ins Gespräch kommen, wo es einem gefällt.
Kunst, die man tatsächlich kaufen kann, gibt es auch. Aber den Preis legt nicht der Künstler fest, sondern wird nach einem gemeinsam ersonnenen Schlüssel ermittelt. Ein Teil der Verkaufserlöse wird an alle Künster*innen verteilt, egal wie erfolgreich sie ihre Werke verkauften. Die Preise sollen sich in Bereichen bewegen, die für Otto Normalverbraucher darstellbar sind. Das find‘ ich richtig super.
In anderen Worten: die documenta fifteen, wie sie offiziell genannt wird, ist eigentlich eine totale Themaverfehlung. Ich bin gespannt, wann das erste deutsche Feuilleton hier seine Enttäuschung formuliert. Der Welt größte Schau zeitgenössischer Kunst sperrt den Kunstbetrieb aus und negiert dessen Maßstäbe? Dürfen die das?

Man kann das natürlich auch genau andersherum sehen, nämlich so:
Das Beste an dieser documenta ist, dass das Millionenbudget dieser Großveranstaltung einer ziemlichen Menge überwiegend mittelloser Künstler des globalen Südens zugute kommen, in Form von etwas Geld und Aufmerksamkeit und 100 lauen und lustigen Sommernächten in den Auen der Fulda.
Für den Rest der Kunstwelt gilt: 100 Tage ist der Maßstab der „guten Kunst“ und die Suche nach neuen großartigen KünstlerInnen außer Kraft gesetzt, und wir tun jetzt alle mal alle so, als fänden wir das toll. Zum Glück läuft ja zeitgleich noch die Art Basel, also mit „richtiger“ Kunst.

