Wenn deutsche Medien sich einig sind, dass eine Gaspipeline eine Gefahr darstellt, weil das Gas nun nicht mehr durch die Ukraine zu uns kommt, die EU extra ihre Verordnungen ändert, um diese Pipeline zu verhindern, und es der deutschen Wirtschaft, die hier geschädigt wird, offenbar die Sprache verschlägt – dann lohnt es sich, genauer nachschauen, worum es hinter den Kulissen geht.
Hintergründe zu den russischen Pipelines, die gerne verschwiegen werden, Ausblicke auf eine irrlichternde Hegemonialmacht USA und Einblicke in deutsche Redaktionsstuben, auf die man lieber verzichtet hätte. Jan Kobel / Arnstadt, 25.12.2021
Die Vorgeschichte: wie kommen die Röhren in die Ostsee?
Wie die „2“ in Nord Stream 2 (NS2) andeutet, handelt es sich bei der Gaspipeline durch die Ostsee nicht um die erste dieser Art. Die erste Pipeline, Nord Stream 1, verläuft parallel zur aktuell umstrittenen NS2, wurde bereits im November 2011 eingeweiht und versorgt seitdem Europa mit 55 Mrd. m3 Erdgas pro Jahr.
Mit 7,4 Mrd. Euro war NS1 eine der größten privaten Investitionen in die Energienetze Europas. Eigentümer dieser ersten Ostseepipeline ist die Nord Stream AG mit Sitz in der Schweiz. Dieses Unternehmen gehört zu 51% Gazprom, den Rest halten Wintershall, E.ON, Gasunie und Engie.

Die Idee, eine Gaspipeline kostenintensiv durch die Ostsee zu bauen, anstatt weitere Röhren durch Osteuropa, kam Ende der 90er Jahre auf. Mit der Neuordnung Europas strich Russland Polen und der Ukraine nach und nach die noch aus RGW-Zeiten stammenden Sonderkonditionen für Erdgaslieferungen, was diese nicht bereit waren hinzunehmen.
Insbesondere die Ukraine, über die bis heute der Großteil des russischen Gases nach Europa geliefert wird, nutzte ihre Hoheitsrechte als Druckmittel um für sich günstige Konditionen für das russische Gas auszuhandeln.
Die Ukraine wollte sich zwar geopolitisch dem Westen und dessen Marktgepflogenheiten zuwenden, zugleich aber an den alten Lieferkonditionen für russisches Gas festhalten, die bei ca 50 $ pro m3 lagen und damit ein Viertel bis Fünftel unter dem damaligen Weltmarktpreis lagen (200-250 $).
Resultat dieser Sonderkonditionen war unter anderem, dass die Ukraine Teile ihres für 50 Dollar erworbenen Gases für 260 Dollar an Rumänien verkaufte, oder ukrainische Produkte in vielen Branchen auf dem russischen Markt zu Dumpingpreisen angeboten werden konnten (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Russisch-ukrainischer_Gasstreit).
Diesen jährlich auf vier Mrd. Euro bezifferten Verlust und die mit der Subventionierung der Ukraine einhergehende Schädigungen der russischen Wirtschaft wollte und konnte Russland nicht dauerhaft hinnehmen. Trotz einer späten Einigung blieb das Erpressungspotential der Ukraine hoch.
Die Antwort Gazproms lautete: Pipeline durch die Ostsee. Die Deutschen, damals unter Schröder, waren dabei. Damit wurde das Geschäft mit der EU von dem Geschäft mit den ehemaligen Ostblockstaaten tendenziell abgetrennt.
Einher damit geht eine wesentliche energiepolitische und wirtschaftliche Schwächung der Transitländer, die sich ihrer Position gegenüber Russland beraubt sahen:
„Russland als Lieferant als auch Abnehmer in Mittel- und Westeuropa sind damit von Erpressungsversuchen durch Transitländer unabhängig, beispielsweise wenn diese Preisangleichungen an das europäische Niveau nicht akzeptieren wollen. Bisher konnten Transitländer das Passieren ihres Territoriums als Druckmittel nutzen, um exklusive Lieferbedingungen für sich selbst durchzusetzen, und so die Versorgungssicherheit Westeuropas gefährden.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Nord_Stream)
Europapolitik der USA: Alles für den großen Showdown gegen Russland
Nicht Russland gefährdete dauerhaft die Versorgungssicherheit Europas, sondern die Transitländer. Deshalb war schon damals, bei Errichtung von NS1, das Geschrei groß, und schon damals machten sich die USA zum Fürsprecher Polens und der Ukraine, da sie eine Schwächung ihrer neuen Frontstaaten bzw. NATO-Partner durch diese neue Pipeline verhindern wollten:
„Im September 2008 forderte der US-Botschafter in Schweden, Michael M. Wood, in einem ganzseitigen Artikel unter der Überschrift „Sagt Nein zu Russlands unsicherer Energie“ in der Tageszeitung „Svenska Dagbladet“ die Regierung in Stockholm auf, den Bau der Pipeline zu verhindern. Die Krise im Kaukasus zeige, dass Europa und die USA nicht von Russland als unzuverlässigem Energielieferant abhängig sein dürften. Die deutsche Regierung protestierte bei der US-Botschaft in Berlin gegen diese Einmischung.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Nord_Stream)
Weshalb eine Energielieferung plötzlich unsicher werden soll, weil sie über eine exterritoriale Röhre geliefert wird, weiß kein Mensch. Ebensowenig, wie man eine „gefährliche Abhängigkeit“ verhindern kann, indem man das, wovor man warnt, selbst herstellt, nämlich kein Erdgas mehr aus Russland zu beziehen.
Ist aber auch egal. Solche Widersprüche in ihrer öffentlichen Kommunikation stören weder amerikanische Botschafter noch deutsche Medien. Sie sind gewohnt, dass ihr Framing gelingt und ihre einfache Botschaft ankommt: Wir wollen das nicht, weil Russland böse ist. Und Russland ist böse, weil wir es nicht wollen.
Damals allerdings hielt sich die Aufregung noch in Grenzen, denn die Ukraine verbleibt auch mit NS1 in der Position eines Transitlandes für russisches Gas. Die Kapazität des Röhrensystems in diesem Land beträgt 170 Mrd m3 pro Jahr und damit mehr als das dreifache von NS1.

Mit der fertigen NS2 ändert sich die Situation schlagartig. Nicht nur, weil Russland nun die doppelte Kapazität an Energie durch die Ostsee liefern kann.
Genauso bedeutend ist die neue Erkenntnis, dass Russland offenbar in der Lage ist, gegen alle Sanktionen der USA und der EU, juristischen Interventionen Polens und der EU und trotz des Verlustes seiner westeuropäischen Partnerkonzerne ein solches Projekt technisch und finanziell alleine durchzuziehen, und zwar in enormer Geschwindigkeit.
Polen hatte noch erfolgreich mit einer Intervention bei der EU die westeuropäischen Konzerne aus der Projektträgerschaft herausgedrängt, so dass Gazprom heute alleiniger Inhaber der Nord Stream 2 AG ist (nicht zu verwechseln mit der Nord Stream AG, die die NS1-Pipeline betreibt). Die Pipeline ist dennoch fertig und betriebsbereit.
Die russische Wirtschaft will einfach nicht untergehen, trotz aller Sanktionen
Die Russen können heute eine Doppelröhre von 1200 km Länge mit mehreren Schiffen innerhalb eines Jahres verlegen. Nord Stream 2 ist somit eventuell noch nicht mal das Ende der Fahnenstange.
Das verschärft aus Sicht Polens, der Ukraine und der US-Geostrategen die Situation erheblich. Dass die Pipelines in Polen und der Ukraine komplett hinfällig werden, gerät in den Bereich des Möglichen. Es muss unbedingt verhindert werden.
Hinzu kommt, dass der Bedarf an Erdgas weltweit steigt, und Russland aufgrund seiner enormen Vorräte in der Lage ist, diesen weitgehend zu bedienen – und zwar auch ganz ohne den Support westlicher Technik und westlichen Kapitals.

Sogar auf dem LNG-Sektor baut Russland massiv seine Verladekapazitäten aus, womit sie den USA auch auf diesem Sektor Konkurrenz machen werden. Was immer die USA gegen Russland sanktioniert haben, es scheint nicht die beabsichtigten Wirkungen zu zeigen.
Die USA verfolgen mit ihrem NS2-Verhinderungs-Policy somit mehrere Ziele gleichzeitig:
Erstens wollen sie einer wirtschaftlichen Schwächung ihrer Frontstaaten Polen und Ukraine vorbeugen;
zweitens wollen sie Russland schwächen, indem sie dessen Gasgeschäft behindern;
drittens wollen sie den polnischen Energiemarkt für ihr eigenes (teureres) Flüssiggas herrichten, dem zusätzliche Pipeline-Kapazitäten Russlands entgegenstehen;
viertens wollen sie, dass das erpresserische Potential dieser Röhren sowohl gegenüber Russland auch als gegenüber Deutschland erhalten bleibt. Für die USA selbst.
Denn wie die aktuellen Funktionalisierungen Litauens gegen China oder Polens gegen Deutschland zeigen, übernehmen die ehemaligen sowjetischen Länder bzw. Warschauer-Pakt-Staaten für die USA innerhalb der EU eine immer wichtigere Rolle als Spaltpilz und Störfaktor.
Die Zeiten, in denen sich die USA auf die EU als ganzes partnerschaftlich und positiv bezogen, sind vorbei. Heute geht es Amerika auch und vor allem darum, durch Sonderbeziehungen zu den einzelnen Mitgliedsstaaten Einfluss auf die EU zu nehmen.
Damit ist das fünfte und letzte Ziel der USA in Zusammenhang mit diesen Erdgasröhren angesprochen:
Offenbar geht es auch darum, Deutschland und die EU-Verantwortlichen soweit unter ihre unmittelbare Kontrolle zu bekommen, dass im Idealfall von den USA als unerwünscht eingestufte Geschäfte und Beziehungen nicht mehr möglich sind. NS2 ist auch ein Testfall dafür, und sie sind auf gutem Wege, wie ein Blick in die deutsche Medienlandschaft zeigt.
Während die EU noch 2006 NS1 befürwortete als „Bestandteil eines Transeuropäischen Netzes“ (TEN), sprachen sich Kommission, Parlament und Rat von Anfang an gegen NS2 aus, womit die Pipeline plötzlich kein europäisches Projekt mehr sei, sondern „allein in der Hand der Deutschen“ liege (Josep Borell).
In Sachen NS2 scheint es ein leichtes für die USA, die EU-Partnerländer gegen Deutschland in Stellung zu bringen. Von Polen und der Ukraine abgesehen, hat jedoch kein EU-Staat wirklich ein Interesse an einem Scheitern der Pipeline. Im Gegenteil: die langfristige Preisbindung des russischen Gases ist eigentlich für ganz Europa ein Sicherheitsfaktor angesichts der frei durchdrehenden Spotmarktpreise von bis zu 1700 €/m3.
Sachlich gesehen hat sich zwischen NS1 und NS2 wenig geändert, außer dass die Transportkapazitäten sich nun verdoppeln auf 110 Mrd. m3 pro Jahr. Weder nimmt dadurch eine Abhängigkeit zu (diese ist, wenn überhaupt, in dem steigendem Bedarf Deutschlands und der EU nach Erdgas zu sehen, aber nicht in der Lokalisierung einer Röhre), noch kann Russland Deutschland oder die EU nun besser erpressen, gegenüber einer Lieferung des Gases via Ukraine. Beides ist offenkundig Unfug.
Wie oben gezeigt, verliert die Pipeline Erpressungspotential, allerdings in die andere Richtung – durch den Verlust von Transitrechten und Zugriffsmöglichkeiten. Wenn, dann ist es also genau andersherum: Die USA und Ihre Vasallenstaaten verlieren durch NS2 Einfluß und Druckmittel.

Dass die EU das nun aber auch so sieht und sich den US-Standpunkt zu eigen macht, zeigt, wie sehr Deutschland hier inzwischen isoliert ist, wie wenig es Berlin und der Deutschland AG gelingt, seine bzw. ihre Interessen durchzusetzen, auch unter einer deutschen Kommissionspräsidentin, und wie erfolgreich es die USA innerhalb Europas verstehen, Interessengegensätze auszunutzen und Meinungen und Willensbildung zu gestalten.
Von der Süddeutschen bis zur EU-Kommission: willige Vollstrecker amerikanischer Geopolitik
Das geht soweit, dass die EU Kommission 2019 eine für das „Unbundling“ des EU-internen Energiemarktes vorgesehene Verordnung „erneuerte“ in dem Sinne, dass diese nun auch für Zuleitungen aus dem EU-Ausland Beachtung zu finden habe.
Die geänderte Gasrichtlinie der EU verlangt, dass die letzten Kilometer der Pipeline auf deutschem Grund nicht im Eigentum von Gazprom liegen dürfen, und dass andere Gasversorger für diesen Teilabschnitt der Röhre „Durchleitungsrechte“ erhalten sollen. Kein Witz.
Diese Verordnung ist nicht nur sachlich absurd, sie ist auch Jahre nach der Gazprom gegebenen Baugenehmigung ein klarer Verstoß gegen den juristischen Grundsatz der Rechtssicherheit, der u.a. die „Beständigkeit“ von einmal gegebenen Rechtsnormen und Genehmigungen garantiert, wie der Deutsche Bundestag auch 2019 bestätigt hat.
Die Nord Stream 2 AG klagt dagegen, da alle anderen Gas nach Europa liefernden Pipelines von dieser Regelung durch eine Ausnahmegenehmigung natürlich befreit wurden. Ein aufschlussreicher Einblick in Sinn und Zweck europäischer Verordnungen: die neue Verordnung wurde offenbar extra geschaffen, um Nord Stream 2 zu verhindern.
Die juristische Auseinandersetzung vor dem EuGH ist heute, Ende 2021, noch nicht entschieden, hier scheint es ein Tauziehen zu geben zwischen zweifelsfreien juristischen Grundsätzen und politischer Einflussnahme. Juristisch dreht es sich vor allem um die Frage, was „Fertigstellung“ bedeutet:
War die Pipeline, die bereits 1000 km lang am Meeresboden lag, als die EU ihre gegen sie gerichtete Kampfverordnung erließ, bereits „fertig“, oder ist sie erst dann fertig, wenn der letzte Schieber montiert ist? Als würde diese Frage an der Willkür des EU-Gebarens etwas ändern.
Es bleibt die Option, dass die EU ein Milliardengrab zu Lasten Russlands und der deutschen Wirtschaft und Haushalte erzwingt. Das scheint sie tatsächlich zu beabsichtigen (von der letzten Option, die in dieser neuen Verordnung steckt, ganz zu schweigen: dass Russland langfristig gezwungen werden könnte, seine Gasfelder europäischen Unternehmen zu öffnen. Die EU regelte dann Konzessionierung und Durchleitungstarife).
Die Nord Stream 2 AG selbst nimmt auf eine Anfrage am 20.12.2021 wie folgt Stellung:
„Am 15. Mai 2020 lehnte die Bundesnetzagentur den Nord Stream 2-Antrag auf eine Ausnahme von den Regeln der EU-Gasrichtlinie ab, die offensichtlich speziell wegen Nord Stream 2 geändert worden war. Die Nord Stream 2 AG hält daran fest, dass das Unternehmen somit in unzulässiger Weise diskriminiert wird, da alle anderen Importpipelines, die vor Inkrafttreten der neuen Vorschriften investiert hatten, nach der geänderten Gasrichtlinie die Möglichkeit auf eine solche Ausnahmegenehmigung haben. Diese Ablehnung des Antrags der Nord Stream 2 AG auf eine Ausnahmeregelung macht die diskriminierende Wirkung der geänderten EU-Gasrichtlinie deutlich.
Daher hat die Nord Stream 2 AG am 15. Juni 2020 beim Oberlandesgericht Düsseldorf Beschwerde gegen die Entscheidung der BNetzA eingelegt, den Antrag des Unternehmens auf eine Ausnahme von der geänderten EU-Gasrichtlinie abzulehnen. Diese Beschwerde wurde am 25. August 2021 von dem Gericht abgelehnt. Die Nord Stream 2 AG hat gegen dieses Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.
Die Anfechtung der Änderung der Gasrichtlinie durch die Nord Stream 2 AG vor dem Gerichtshof der Europäischen Union sowie gemäß dem Vertrag über die Energiecharta ist noch nicht abgeschlossen.“
Diese von den USA definierte und angeführte Kampagne gegen eine neue Gasröhre bekommt nun durch die GRÜNEN in der neuen Bundesregierung enormen Aufschwung – umso mehr, als unter GRÜNEN-Politikern interessanterweise offenbar nur jene erfolgreich sind und einflussreiche Positionen erhalten können, die der harten Atlantiker-Fraktion zuzurechnen und in die einschlägigen Logen der USA eingebunden sind. Özdemir, Nouripour, Bütikofer, Baerbock.
Die GRÜNEN-Politiker scheinen von dem Willen, den amerikanischen Vorgaben – von der Verhinderung von NS2 bis zum Olympia-Boykott in Peking – zu genügen, regelrecht besessen zu sein.
Deutsche Außenpolitik droht unter Annalena Baerbock jeden Charakter einer eigenständigen, nationale Interessen definierenden und verfolgenden Politik zu verlieren. Das Bild, das sie abgibt, spielt jenen in die Hände, die glauben, sie erhalte ihre Weisungen jeden Morgen aus den USA. Wahrscheinlich ist sie jedoch schlichtweg eine Eiferin.
Das ist offenbar dem großen Partner der neuen Koalition und Bundeskanzler Olaf Scholz bereits so sehr aufgestoßen, dass er sich bemüßigt sah, öffentlich klarzustellen, wer die Außenpolitik des Landes bestimmt.
Wer immer sich in diesem Ringen um eine Gaspipeline durchsetzen wird – der Pragmatismus einer traditionellen deutschen Wirtschaftspolitik oder die Ideologisierung der deutschen Politik nach US-Vorgaben, das politische Bedürfnis nach Deeskalation und Interessenausgleich mit Russland oder die geostrategische Frontenbildung einer zunehmend nervös werdenden Hegemonialmacht – wir können heute schon einiges lernen aus diesem absurden und verlogenen Possenspiel.
Lehren über den Zustand der deutschen Öffentlichkeit
Wir lernen, dass die deutsche Politik und die deutsche Wirtschaft nicht in der Lage sind, ihre Interessen in Sachen nationale Energieversorgung souverän und hörbar zu vertreten. Natürlich ist die Pipeline erwünscht, erst recht angesichts der aktuellen Marktlage für Energie und Gas, und natürlich herrscht in den Führungsetagen Einigkeit, dass ihre Konzessionierung im deutschen Interesse und im Interesse ihrer Wirtschaft liegt.
Die veröffentlichte Meinung jedoch, aktuell befeuert durch die GRÜNEN und die ihnen sekundierenden atlantischen Medien von Süddeutsche bis ZEIT, läßt unter dem verlogenen Label „endlich werteorientiert“ ein komplett anderes Bild entstehen. Dass dieses framing tatsächlich gelingt, und selbst besonnene und wirtschaftsnahe Redaktionen sich schwer tun, in anderen Begriffsfeldern als „umstrittenes Projekt“ oder „Putin-Projekt“ zu berichten, ist schier unglaublich. Was hat man ihnen in den Tee getan? Wie kann man eigene Interessen so jämmerlich verleugnen?

Meint Hubert Wetzel von der Süddeutschen Zeitung am 8. 12.2021.
Wir lernen viel über den Opportunismus einer geistigen Elite Deutschlands, die sonst immer sofort dabei ist, in aufklärendem Gestus hinter dem schönen Schein die harte Realität zu entdecken, mit Helmut Schmidt hinter den „Menschenrechten“ stets die „Interessenpolitik“ zu erkennen und die sich auch sonst angeblich nichts vormachen lässt.
Es sei denn, es geht gegen Russland (und China). Dann werden angebliche oder tatsächliche Verfolgung und Unterdrückung russischer (und chinesischer) Bürger publizistisch derart aufgearbeitet, dass ein Votum für NS2 erscheint als ein jede Reputation vernichtendes Votum für „für Putin“. Die NS2-Befürworter sind in der Defensive, und scheinen nicht in der Lage, aus der Propagandafalle auszubrechen, die Ihnen gestellt wurde und wird.
Die deutsche Öffentlichkeit soll auf Krieg eingestimmt werden, und das geht genau so. Einen Krieg, den die USA kalkulierend in Kauf nehmen, in der Erwartung, dass weniger sie selbst, dafür umso deutlicher Europa den Schaden haben wird.
Plötzlich ist allen Kommentatoren und Durchblickern in den deutschen Chefredaktionen klar, dass es nun nicht mehr um „Interessen“ gehen könne, sondern um „Werte“ und „Menschenrechte“.
Die deutschen Medien sind die willigen Vollstrecker eines US-amerikanischen Wahnsinns, wie ihn in extremo Senatoren wie Ted Cruz oder Roger Wicker verkörpern, und sind dabei auch noch stolz darauf, sich in den weltpolitischen Empfehlungen ihrer Kommentare endlich mal „nicht von wirtschaftlichen Interessen“ leiten zu lassen.
Realitätsverweigerung als politisches Syndrom von Machtverlust
Wir lernen schließlich etwas über Realitätsverleugnung als psychologisches Massenphänomen einer westlichen Kultur, die offenbar nicht wahrnimmt, wie sehr sich die Welt in den letzten 25 Jahren verändert hat. Weil sie es nicht wahrnehmen will.
Nicht nur China hat die letzten 25 Jahre einen erstaunlichen Aufstieg absolviert und tut es noch, auch Russland ist ganz offenbar mitnichten der failed state, als den wir ihn so gerne zeichnen.
Ungeachtet seiner innenpolitischen Zustände hat Russland nicht nur die US-Sanktionen weitgehend pariert, im Energie- und Militärsektor große Fortschritte bewältigt und auch einen eigenen Finanzmarkt entwickelt. Vor allem bildet Russland heute mit China eine immer tiefer wirkende Allianz der Abwehr der hegemonialen Ansprüche der USA.
Der failed state sind tendenziell eher die USA selbst, die es bis heute als unvereinbar mit ihrer Sicherheit betrachten, wenn andere Staaten auch nur in die Nähe einer Selbstbehauptung gegenüber ihrem HiTech- und Militärapparat kommen. Ihr gehobener Anspruch auf ungehindertes Agieren an jedem beliebigen Ort des Globus – „to deploy our forces when we want, assemble them where we want, and operate how we want„ – kollidiert zunehmend mit den Mitteln.
In Zentralasien, am Persischen Golf und im Indo-Pazifischen Raum verfällt die US-Suprematie in gestern noch nicht für möglich gehaltenem Tempo. Im Inneren scheint sich die US-Gesellschaft in gegenseitigem Hass und Verachtung an Ihren Gegensätzen und ihren unfähigen Eliten, an Kriminalisierung von Armut und Kriminalität, an Rassismus und Obdachlosigkeit aufzureiben.
Alleine, sie scheinen es nicht wahrzunehmen, und noch weniger ihre europäischen Frontstaaten und Frontberichterstatter.
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NACHTRAG zur Frage: Liefert Gazprom nun genug Gas – oder nicht?
Man kann diese Frage – wie kann es sein, dass Russland vertragsgerecht liefert und dennoch zu wenig? – sachlich tatsächlich beantworten. Das geht so:
Russland hat immer darauf bestanden, langfristige Lieferverträge abzuschließen, die Preise fixiert zwischen 100 € und 200 € / 1000 m3. Die Preise auf den sog. „Spotmärkten schwanken stark, sie lagen lange darunter, jetzt liegen sie um ein mehrfaches darüber. Russland interessiert sich nicht für Spotmärkte, es will langfristige Preisbindungen, mit denen Gazprom kalkulieren kann. Nachvollziehbar.
Nun passiert folgendes:
Sind die Marktpreise unter den russischen Lieferpreisen, wird Russland vorgeworfen, sich ungerechtfertigt zu bereichern, so haben Polen und auch Moldawien versucht, von den russischen Lieferungen sich abzukoppeln und auf den Spotmärkten zu kaufen. Als dort das Gas noch billig war.
Schießen die Preise umgekehrt in den Himmel, wie aktuell, kommen sie nicht nur alle wieder angerannt und wollen wieder Gazprom-Abnehmer werden. Vor allem erwartet man nun von Russland, dass es mit zusätzlichen Lieferungen und Angeboten auf den Spotmärkten der Hausse ENTGEGENWIRKT. Gazprom könnte natürlich ZUSÄTZLICH zu den vereinbarten Lieferungen große Mengen auf dem europäischen Markt zur Verfügung stellen, bis die Preise sinken. Was Gazprom offenbar nicht oder nur in relativ geringen Mengen tut.
In anderen Worten:
Läuft der Gaspreis niedrig und damit gegen russische Preise, sind die Russen zu teuer.
Läuft er hoch und damit für russische Preise, sind die Russen zuständig dafür, dass er abgesenkt wird.
Das ist schon dreist: Ausgerechnet Russland, das diese spekulativen Preismärkte als Basis der Handelsbeziehungen ablehnt, soll nun verantwortlich sein dafür, dass die so tollen „befreiten“ Marktpreisbewegungen sich immer zugunsten unserer Versorgung bewegen. Gazprom ist also ENTWEDER ZU TEUER oder VERANTWORTLICH FÜR EINE PREISSENKUNG, und damit Schuld an hohen Priesen. Auf jeden Fall immer schuld. Das liegt in der Natur dieser Logik.
Der Markt soll es richten, aber nur wenn es uns passt und Erdgas billig ist. In allen anderen Fällen soll Russland den Markt in unserem Sinne beeinflussen. Das heißt:
Die Beschwerde, dass Russland nicht genug liefere, hat tatsächlich eine sachliche Grundlage. Sie könnten die Marktpreise nach unten drücken – indem sie neben und zusätzlich zu ihren Verpflichtungen die Märkte bis zu einem Überangebot fluten. Dass Russland das nicht tut, liegt schlicht und einfach daran, dass es sich nicht zuständig fühlt für den Liberalisierungswahn der europäischen Kommission und all der angelsächsischen Marktanbeter – die im übrigen soeben Milliarden scheffeln (teilweise noch mit billig eingekauftem Russengas).
Die aber sehen es genau andersherum: Wenn der Markt zeigt, was für eine SCHEISSIDEE es ist, bei der nationalen Energieversorgung auf die Spekulation zu setzen, DANN IST RUSSLAND DAFÜR ZUSTÄNDIG, dafür zu sorgen, dass die Versorgung dennoch funktioniert.
Wenn das nicht passiert, sehen wir, wie „Putin uns erpresst“.Und das natürlich, während wir die Russische Föderation dissen und ihr vorsorglich schon mal den (Wirtschafts-)Krieg erklären.
Allumfassend, sachlich sehr gut aufgearbeitet und leicht verständlich ausformuliert….
Danke sehr!
JK
Ich schließe mich dem Urteil von Volkmar Allers an, vielen Dank!
Qualität wie immer bei Jan Kobel! Herzlichen Dank.
Angesichts der Entwicklung des letzten halben Jahres frage ich mich, ob bei ihnen und ihren Fürsprechern ein Umdenken stattgefunden hat. Auch bei ihren Ausführungen kann von einem „framing“ gesprochen werden, allerdings mit anderer Blickrichtung. Finde ich eigentlich schade, da mir Ihre Ausführungen zur Kulturlandschaft Thüringen und Sachsen-Anhalt sehr gefallen haben. Ich habe die Unstrut schon oft befahren, kenne die Gegend und war auch von Hagedorns Buch beeindruckt. Aber ich weiß auch, dass einmal geschmiedete „Logikketten“ schwer zu durchbrechen sind.
Sehr geehrte Frau/Herr unbekannt, normalerweise lösche ich anonyme Kommentare sofort, aber vielleicht mache ich bei Ihnen eine Ausnahme, wenn Sie die Freundlichkeit hätten mir mitteilen zu wollen, WELCHE Aussage dieses Artikels ich nun überdenken solle, und vor allem warum?
Mit freundlichen Grüßen
Jan Kobel