Mehr Licht und Vernetzung – auch für die Thüringer Industriekultur!

Das TRAFO in Jena. Hier kurbelt die Industriekultur.

Die Kleinstaaten haben Deutschland zum gebildetsten Lande der Welt gemacht. Jetzt aber sind sie nicht mehr möglich und müssen großen politischen Nothwendigkeiten weichen.
Wilhelm von Kügelgen, 1865

Dabei kann es nicht nur um die – rückblickende – museale Aufarbeitung und Präsentation dieser Industriegeschichte gehen. Es muss genauso darum gehen,  Industriekulturen an den Originalschauplätzen erlebbar und auffindbar zu machen und in neue Nutzungen zu bringen.

Referat vor dem Städtenetz SEHN in Bad Langensalza
vom 27. Juni 2018 / von Jan Kobel

Wer sich in Thüringen für Industriekultur oder für Projekte zur Umnutzung verfallender Industriearchitekturen interessiert, wird feststellen: In allen Städten und Winkeln des Landes entstehen nach und nach Initiativen, die versuchen, das INDUSTRIELLE ERBE zu bewahren oder durch Kunst und Musik, Büros und Werkstädten, Co-Working-Spaces oder Ladengeschäfte in einst industriell genutzte Räume wieder Leben zu bringen. Er wird aber auch feststellen: meist wissen diese nichts oder wenig voneinander, eine Kooperation findet kaum statt, und vor allem sind diese Projekte für Interessierte schwer aufzufinden.
Die Thüringer Industriekultur-Szene ist für den Nicht-Insider unsichtbar. Es gibt keine gemeinsame Plattform und kein Netzwerk, kein Erfahrungsaustausch und keine Kooperation. Dass es auch anders geht, zeigen die Nachbarländer Sachsen oder Sachsen-Anhalt, wo die jeweiligen Landesregierungen seit Jahren dem Thema große Aufmerksamkeit widmen.
Die Thüringer Industriekultur hat – jenseits des Bauhauses – keine Lobby. Nicht in der Politik, und schon gar nicht in der Bürger- und Unternehmerschaft des Landes. Das ist das Problem. Der Erfurter Denkmalpfleger Mark Escherich sagte auf einer Konferenz zur Thüringer Industriekultur in Arnstadt 2017:
Von den Traditionen, auf die sich unsere Kulturpolitik beziehen möchte, ist das Industriezeitalter in Thüringen regelrecht ausgeschlossen.
Ich will versuchen zu erklären, woran das liegt, dass das Land Thüringen seine assets, wie es neudeutsch heiß, nicht zu erkennen vermag – und dies nicht nur beim Thema industrielles Erbe.

Thüringen will möglichst sein wie Baden-Württemberg

Die Frage der regionalen Identität des Landes Thüringen scheint eine längst zur allgemeinen Zufriedenheit beantwortete zu sein: Thüringen ist zwar auch ein Kulturland, mit Luther, Goethe und neuerdings auch mit dem Bauhaus (immer schön entlang der A4), aber erstens und vor allem ein erfolgreicher MODERNER WIRTSCHAFTSSTANDORT. Die wirtschaftlichen Zahlen zeigen nach oben. Weiter so.
Deutlich zeigt sich dieser Stolz auf die Modernität des Wirtschaftstandorts Thüringen in der Image-Kampagne des Landes: „Das ist Thüringen“ steht auf den Plakaten, die in internationalen Flughäfen die Skyline von New York, einen tiefergelegten Mercedes oder einen Airbus zeigen. Eine Kampagne mit peinlichem Einschlag, weil sie den etwas zu groß geratenen Maßstab des Erfolgs verrät: Thüringen ist deshalb erfolgreich, weil vom Glanze New Yorks, Baden-Württembergs oder Hamburgs auch etwas auf das Land abfällt.

Der Brückenbau-Ingenieur Roebling und Erbauer der Brooklyn Bridge fand mitte des 19. Jahrhunderts in Thüringen keinen Job und mußte auswandern, um seine Familie zu ernähren. Das ist Thüringen?

Die schlechte Nachricht jedoch lautet: Thüringen wird nie so erfolgreich sein wie die westlichen Bundesländer, da vierzig Jahre Vorsprung nicht aufzuholen sind. Die Konzernzentralen, die Forschungs- und Finanzzentren, wo die Entscheidungen getroffen werden und die Musik spielt, verbleiben im Westen. Man muss nur ab und zu mal ein paar Tage in München, Düsseldorf oder Hamburg verbringen, um zu spüren, wo der Reichtum in diesem Lande wirklich zuhause ist. Thüringen ist und bleibt Provinz.

Im Bekenntnis zur Geschichte liegt eine Chance der Provinz

Die gute Nachricht aber: das muss kein Schaden sein! Denn das Land hat gerade in seiner Provinzialität auch Potentiale, die immer wertvoller werden, umso mehr andernorts die globalisierte Zerstörung unserer traditionellen Lebenswelten voranschreitet.

Die touristische Stärke Thüringens liegt in der außerordentlichen Dichte seiner Kulturlandschaft. Klosteruine Paulinzella, Gert Schulze, 2018

1)
Thüringen hat eine kulturelle Identität, die über die Städtekette von der Wartburg bis nach Weimar hinausgeht, eine weitgehend intakte und außerordentlich dichte KULTURLANDSCHAFT, die sich der Kleinstaaterei vergangener Jahrhunderte verdankt (ähnlich den Stadtstaaten der italienischen Renaissance). Die Besonderheit dieses Nebeneinanders von baulichen Strukturen und Landschaft läßt sich nicht durch das Auflisten einzelner Baudenkmäler beschreiben. Aber es hat durchschlagende Wirkung auf jene, die trotz der Missachtung des Flächenlandes Thüringen durch die Thüringer Tourismus GmbH hierher finden. Thüringen kann begeistern.
2)
Thüringen hat eine touristische Marke der Championsleague, nämlich Johann Sebastian BACH. Überall in Thüringen stehen noch die Steine, über die und an denen vorbei der bedeutendste Musiker aller Zeiten und die Mitglieder seiner Familie gelaufen sind. ORIGINALSCHAUPLÄTZE. Bach ist ein Marke der Sonderklasse, da sie sprach-, religions- und kulturübergreifend international selbsterklärend ist, wie sonst nur Namen wie Shakespeare oder Michelangelo – oder Mozart.
Alljährlich im März, zu den großen Konzerten der Thüringer Bachwochen: das gut betuchte Bildungsbürgertum fällt in Thüringen ein. Aber in London hat kaum jemand je von Thüringen gehört, obwohl sie alle verrückt nach Bach sind.

Die Stadt Salzburg schätzt den Wert der Marke MOZART weltweit auf 50 Mrd. Euro, ein nicht unerheblicher Anteil davon landet in den Kassen der Hoteliers, Geschäfte und Gaststätten des Landes. Johann Sebastian Bach ist die gleiche Liga. Wer diese Künstler verehrt, will an die Orte, wo sie wirkten und lebten, ihre Musik an originalen Schauplätzen hören. Die Menschen fühlen sich geradezu magisch davon angezogen. Aber auch hier gilt: eine Konzertierung der Musikszene barocker Musik und ein auf internationales Publikum gerichtete Marketing derselben findet nicht statt.
3)
Thüringen hat schließlich eine sich seit gut 1000 Jahren entwickelnde Geschichte der INDUSTRIEKULTUR, die irgendwo im Mittelalter beginnt, mit den Venezianischen Bergleuten, die im Thüringer Wald nach Mangan und andren seltenen Erden für Ihre Glaskunst schürften (Gartenzwerge! http://www.mangan-thilo.de/16.html), mit einem breiten Spektrum an Infrastruktur- und Industriebauten aus der Gründerzeit bis zu den Zeugen der dunklen Seite der Industriekultur von Mittelbau-Dora bis zum Uranabbau.
Prof. Harald Kegler hat diese besondere Identität der Thüringer Industriekultur 2017 im Milchhof in Arnstadt entwickelt mit den Worten:
In keinem anderen Land können wir die Geschichte der Industrialisierung Europas bis in die Moderne so hautnah erzählen wie in Thüringen, von den Ursprüngen des Bergbaus im Mittelalter über den Kali- und Erzabbau im 18. und 19. Jahrhundert bis zur Wismut.
Thüringen, so Kegler,  spiegele die „Archäologie“ der Industrialisierung Europas in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Hier, zwischen der Neuen Hütte in Schmalkalden und der Wismut, zwischen dem Fröbelschen Kindergarten und dem Gothaer Programm der SPD, zwischen dem Bauhaus und den Plattenbauten liege ein Alleinstellungsmerkmal des Landes, das weiter entwickelt werden könne. (Mehr hierzu unter 17.08_Industriekultur in Thueringen_FAZIT.web)

Dabei kann es nicht nur um die – rückblickende – museale Aufarbeitung und Präsentation dieser Industriegeschichte gehen. Es muss genauso darum gehen, diese Industriekulturen an den ORIGINALSCHAUPLÄTZEN erlebbar und auffindbar zu machen und in neue Nutzungen zu bringen – möglichst jenseits des rein Musealen. Dann zeigt sich hier vielleicht auch das rote Band und die inhaltliche Klammer für eine Thüringer ROUTE DER INDUSTRIEKULTUR.
Vorerst scheint Thüringen jedoch selbst an prominentester Stelle nicht voranzukommen: die alten Bahnhallen der Landeshauptstadt, 3,5 Hektar industrielles Erbe unmittelbar neben dem Bahnhof, der seit 2017 zentralster deutsche ICE-Knotenpunkt ist, verfallen ungebremst.
Der Erfurter Bahnhof ist seit 2017 DER ICE-Mittelpunkt zwischen Berlin, Frankfurt, Dresden und München, der Zugverkehr nach Hamburg verläuft neuerdings über Erfurt. Unmittelbar neben dem Bahnhof verfällt spektakuläre Architektur der Gründerzeit.

Die Industriekultur hat in Thüringen, einem Land, das durch seine industrielle Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert nicht weniger geprägt ist als durch das Mittelalter oder die Barockzeit, ein doppeltes Problem.
Erstens: Sie wird nicht einem historischen Erbe zugerechnet, das man zu bewahren habe. Selten wird dieses Erbe als anderes verhandelt denn als „Schandfleck“, sprich: Abrisskandidat.
Zweitens: es gibt nicht, oder nur sehr sporadisch, die Bereitschaft des vermögenden Unternehmertums, in Industriekulturen zu investieren. Der Grund: man erkennt die Bedeutung der kreativen Kulturen, die sich nur in solchen Gebäuden entwickeln können, für die Attraktivität unserer Städte und Lebensräume nicht. Es gibt in Thüringen kulturaffines Bürgertum, dass sich in diesem Sinne einbringt, wie am Milchhof Arnstadt oder am TRAFO in Jena zu studieren. Aber viel zu selten.

Im Osten der Republik ist die Politik doppelt gefragt

Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass in den westlichen Bundesländern schlichtweg mehr Geld vorhanden ist, siehe oben. Es hat aber vor allem mit einer Mentalität zu tun, die die Verantwortlichkeit für Nicht-Profitbringendes Handeln und öffentliche Investition grundsätzlich beim Staat verortet.
Das ist in den traditionell kapitalistischen Bundesländern durchaus anders, wie man beispielsweise an der Geschichte der Bürgerinitiative Nordbahntrasse in Wuppertal ablesen kann. Hier spendeten innnerhalb weniger Monate die Bürger der Stadt (die auch nicht mehr zu den Reichsten der Republik gehört) die drei Millionen Euro für die Realisierung eines Radweges auf einer ehemaligen Bahntrasse, für die die Stadt selbst nicht aufkommen wollte.
Ein solches Spendenaufkommen für Zwecke der Allgemeinheit wäre selbst für das ganze Land Thüringen jenseits des Vorstellbaren.
(Siehe hierzu http://nordbahntrasse.de/)
Aus diesem doppelten Grund ist in Thüringen die Politik auch tatsächlich doppelt gefragt: Als Initiator eines langsamen Paradigmenwechsels zugunsten einer Besinnung auf das industrielles Erbe auch außerhalb der Museen, UND als Initiator und Sponsor einer landesweiten Initiative Industriekultur, die die vielen verstreuten Akteure, die kein Mensch in Thüringen alle kennt, VERNETZT, deren Aktivitäten SICHTBAR macht, Kommunikation und Kooperation anregt und ermöglicht – und so letztlich die Basis schafft für die Entwicklung einer speziell thüringischen Identität der Industriekultur, einer Route der IK, einer Internetpräsenz und einem corporate design.
Wir müssen nicht weit nach Osten schauen, um zu sehen, wie so etwas ausschauen könnte:
http://www.industriekultur-in-sachsen.de/

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