Plädoyer für eine andere Lesart ost- und westdeutscher Befindlichkeiten und Unverständigungen
© Jan Kobel
Die meisten Menschen verachten gerne. Je tiefer sie auf andere herabblicken können, desto höher fühlen sie sich selbst. Diese Verachtung gegen andere stärkt das eigenen Selbstbewußtsein. Dieser Wille, zu verachten, ist tief in der Menschenseele verankert.
Richard-Nikolaus Coudenhove-Kalergi, 1935
Manchmal verhält es mit kniffligen Problemen so, dass eine Lösung erst möglich wird, wenn man eine neue Perspektive einnimmt oder die Fragestellung umdreht. Vielleicht ist so ein Problem auch die Frage, die seit Jahren die deutsche Öffentlichkeit bewegt: Warum ticken die Menschen im Osten Deutschlands anders, als die in der alten BRD sozialisierten? Denn diese Frage unterstellt, dass die Wessis die Norm sind, und die Ossis die Abweichung.
Davon ausgehend begibt sich die deutsche Öffentlichkeit auf Motivforschung: Für die überdurchschnittlich hohe Zustimmung zur AfD, für die relative Unbekümmertheit, mit der man sich im Osten Deutschlands zu rassistischen und nationalistischen Überzeugungen bekennt, oder für die Leichtigkeit, mit der man eine Kanzlerin öffentlich beschimpft und schmäht.
Zur Auswahl bieten die AfD- und Pegida-Interpreten die Demütigungen der Nachwendezeit, eine angeblich nie stattgefundene Integration der neuen Bürger in das vereinte Deutschland, den mangelnde Umgang mit Migranten im oder den Totalitarismus der DDR.
An diesen Argumenten ist vieles richtig, aber sie verkennen den eigentlichen Witz der Ossi-Wessi-Frage: Die, die aus der Norm fallen, sind nicht die Ostdeutschen, sondern ein nicht unwesentlicher Teil der Bürger und Bürgerinnen der BRD. Leute wie ich.
Denn die spannende Frage lautet nicht: Wieso verhalten sich die in der DDR oder im Nachwende-Osten aufgewachsenen Menschen anders als ihre Mitbürger im Westen, sondern: Warum verhalten sich die Westdeutschen anders als der (überwiegende) Rest Europas?
Willkommen in der Normalität Europas
Überall in Europa ist der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. In vielen osteuropäischen Ländern ist er an der Macht, in Frankreich mit immerhin 35% an der Machtergreifung gescheitert, in den skandinavischen Ländern und den Niederlanden erreichen Wilders, Schwedendemokraten, Wahre Finnen oder die dänische Volkspartei locker 20% der Wählerstimmen und regieren tendenziell mit. In Österreich koaliert Haiders Partei mit der ÖVP, in England schaffte Ukip es, die Massen vom Brexit zu überzeugen und eine xenophobe Stimmung sogar im kosmolitischen London zu erzeugen.
Und auch Italien hat inzwischen seine Nachkriegs-Unschuld verloren. Eine Unschuld, die es in Wirklichkeit nie hatte, denn wer jemals mit den Bewohnern „Padaniens“ in eine politische Diskussion geriet, erfuhr schneller als es ihm lieb war, wer an jedem erdenklichen Ungemach die Schuld trägt in Italien: die terrani, die „Erdfresser“ aus dem Süden.
Rassismus, völkischen Nationalismus, Antisemitismus, Verachtung gegenüber Ausländern – fein gestaffelt nach dem Ranking der jeweiligen Heimatnation –, all das kannte und kennt der Westen Deutschlands auch, und zwar zur Genüge. In meiner Jugend identifizierten wir das als Stammtisch-Faschismus in den bayrischen oder schwäbischen Wirtshäusern.
Aber eines war immer klar: gesellschaftsfähig sind diese Formen der Ausgrenzung nicht, und wer jemals etwas werden wollte, in Wirtschaft, Politik, Verwaltung oder Medien, hielt sich besser zurück. Es gab und gibt so etwas wie einen bürgerlichen Grundkonsens: „Kanacken“ oder „Neger“ sagt man nicht, die Identität Deutschland liegt in der EU, seine Zukunft ist kosmopolitisch und Ausländer sind „auch“ Menschen wie wir, mit gleichen Rechten. Wer das nicht beachtete, grenzte sich selbst aus.
Im Osten Deutschlands ist es anders. Es ist erstaunlich, wie schwierig es ist, einem ostdeutschen Mitbürger zu erklären, dass „Fitschi“ ein beleidigender und herablassender Ausdruck für einen Vietnamesen ist, dass es eigentlich keinen Grund gibt, auf Deutschland „stolz“ zu sein (stolz sein kann ich nur auf eine eigene Leistung), oder dass man sich selbst eher als Europäer fühlt denn als Deutscher.
Die AfD erreicht hier grundsätzlich doppelt so hohe Zustimmungswerte wie im Westen, gut über 20%. Offiziell. Die Wahrheit aber ist noch härter: Die Massenbasis der CDU und Teile der (älteren) LINKEN im Osten ticken ähnlich wie die AfD. Die AfD ist die Spitze des Eisberges und setzt die Maßstäbe. Nicht nur in Sachsen. Mit ihr bricht sich bahn, was schon immer da war. Heute, wo der Zauber der Wiedervereinigung und der D-Mark – und mit ihm der Respekt vor den Werten des Westens – lange verflogen sind.
Sonderfall BRD: eine Nation auf Bewährung …
Deutschland hatte den Krieg verloren, den Ersten Weltkrieg schon, den die Angelsachsen und die Franzosen stolz den „Großen Krieg“ nannten, vor allem aber den Weltkrieg mit der laufenden Nummer zwei, in dem nicht nur die deutsche Nation eine weitere Niederlage erlitt, sondern mit ihr die höchste Form der Barbarei, die Deutschland plötzlich international verkörperte.
Deutschland nach ’45 war eine Nation auf Bewährung. Genauer gesagt: die alte Bundesrepublik, die von den Alliierten als Nachfolgestaat des Dritten Reiches definiert wurde, und die sich auch dieses Büßerhemd gerne anzog.
Für die DDR galt das nicht: Sie war mit ihrer Gründung 1949 der „antifaschistische“ Staat und damit per se – in ihrer Eigenwahrnehmung – das gute Deutschland. Fähnchen schwenken bei Paraden gehörte hier zur gerne mitgetragenen Bürgerpflicht! Ähnliches gilt für Österreich: Wenngleich begeisterter integrierter Bestandteil Nazideutschlands, definierte sich die Alpenrepublik nach 1945 lieber als Opfer „der Deutschen“.
Weder die Bürger der DDR noch die Österreicher hatten irgendwem irgendetwas zu beweisen. Die DDRler waren qua Staatssozialismus die geläuterten Deutschen. Die Österreicher waren nie Täter gewesen.
… und demokratisches Musterland
Dabei war die Wiedereinbindung Westdeutschland in den Kreis der „zivilisierten“ Nationen nicht nur eine Frage demokratischer Institutionen, geleisteter Reparationen oder eines glaubwürdigen „nie wieder!“. Die BRD hatte als der kapitalistische Teil des geteilten Deutschlands noch eine Sonderfunktion: Vorbild und Musterstaat zu sein im Kampf der Systeme „freier Westen“ gegen „sozialistische Planwirtschaft“.
Für die bürgerlichen Werte von ökonomischer Chancengleichheit, politischer Mitbestimmung oder Bildung für alle, für die Ideologie der Vereinbarkeit von allgemeinem Wohlstand und kapitalistischem Wachstum – somit für die Gültigkeit der demokratischen Ideale hatte Deutschland ebenfalls einzustehen. Darin fand es seine neue Rolle als Frontstaat der USA, und in dieser Rolle fühlte es sich wohl.
1968 oder mit Idealen spielt man nicht!
Die BRD war Vorzeigestaat, der der Welt, die damals noch zweigeteilt war, beweisen sollte, welche Werte und Vorteile das „System der Freiheit“ den Menschen bietet. Die Jugend in Deutschland West hatte das ziemlich ernst genommen, und war 20 Jahre nach Gründung der BRD gar nicht einverstanden damit, dass unter den Talaren und hinter den Fassaden die alten Nazis wieder in Amt und Würden, die Ideale des Westens international (Persien! Vietnam!) nichts als Schall und Lüge und die Frauen immer noch nicht gleichberechtigt waren.
Das prägte nicht nur mich, der in den 70ern das Gymnasium in München absolvierte, es prägte vor allem die intellektuelle Elite des Landes, die sich vornahm, durch die Institutionen zu marschieren und das irgendwie auch geschafft hat. In Deutschland gilt seitdem ein Gleichheitszeichen von Bildung, Kosmopolitismus, Elite und linksliberaler Gesinnung. Die Rechte des Landes verzweifelt daran, wenn sie die „rot-grün versiffte“ Leitkultur hassvoll bekämpft.
Sie verzweifelt daran zu recht, denn Kosmopolitismus, Antirassismus oder Rechtsstaatlichkeit sind keine Modeerscheinungen. Es sind Haltungen oder Prinzipien, für die eine Menge spricht und die man nicht aufgibt, weil man als gebildeter Mensch ihre Vernünftigkeit erkannt hat. Die relative Resistenz der alten Bundesländer gegenüber der AfD ist auch ein Ausweis eines relativ hohen Bildungsstandes, zumindest unter den Eliten.
Das Missverständnis Deutsche Einheit
Die freiwillige Anschluss der DDR an die BRD barg nicht nur das Missverständnis der Ostdeutschen, dass es sich um eine Vereinigung der jeweils besten Seiten zweier Systeme handeln möge. Hier haben Kohl und die Treuhand rasch für Klarheit gesorgt.
Er barg auch das Missverständnis (zumindest für Leute wie mich), dass einem mit den Ossis vielleicht sächselnde und Trabi-fahrende Sonderlinge, aber doch (als in Sachen Sozialismus und Völkerfreundschaft geschulten Staatsbürgern) weltoffene Kosmopoliten gegenüber stünden. Ein Missverständnis, dass von westdeutscher Ahnungslosigkeit zeugte.
Ahnungslosigkeit davon, wie in der DDR der Begriff „Völkerfreundschaft“ praktiziert wurde. Zum Beispiel so, dass aus Nationen, die mit der DDR „befreundet“ waren, wie Cuba, Algerien, Angola oder Nordvietnam, tausende von Arbeitskräften abkommandiert wurden zum Aufbau des Sozialismus in Deutschland. Diese Menschen wurden separiert und kaserniert untergebracht, Kontakt mit der deutschen Bevölkerung sollte unbedingt vermieden werden, Frauen, die von einem Deutschen schwanger wurden, hatten abzutreiben oder das Land zu verlassen.
Ähnliches galt für die Russen der Roten Armee. Die Schulzeiten der russischen Kinder waren so gelegt, dass sie beim Betreten oder Verlassen der Schulen nicht mit den deutschen Kindern zusammentreffen sollten – immer eine halbe Stunde vor oder nach diesen. Kontakte zwischen den Ethnien sollten unbedingt vermieden werden.
Die Praxis der Völkerfreundschaft in der DDR: Segregation
In Erfurt kam es 1975 tagelang zu rassistischen Progromen gegen algerische Arbeiter, die so heftig waren, dass der algerische Staat seine Leute wieder aus der DDR zurückholte. Algerier hätten deutsche Frauen vergewaltigt, heiß es. Und: sie trügen Messer mit sich.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_in_Erfurt_1975
Völkischer Stolz, Nationalismus und Chauvinismus waren in der DDR ganz normaler deutscher Alltag, wie sollte es auch anders sein? Unter „sozialistischen“ Vorzeichen zwar, aber die kürzten sich schneller raus, als ein Fähnchen geschwenkt war. Kritik an rassistischer Ausgrenzung oder am Nationalismus der Arbeiterklasse stand nicht auf dem HistoMat-Lehrplan der DDR. Das wäre auch eine harte Nuss gewesen!
Der avantgardistische Anspruch der DDR, mit dem Aufbau des Sozialismus auf deutschem Boden die Gesellschaftsform der Zukunft aufzubauen, war keine Bremse jener nationalistischer Tendenzen, die die DDR-Bürger*innen noch von Kaiserreich und Naziregime im Blut hatten. Er war bestenfalls ihr Feigenblatt. Auch wenn das Volk hier „Die Werktätigen“ hieß: Die DDR war ein völkisch-nationalistischer Obrigkeitsstaat mit internationalistischem Mäntelchen.
Zugleich war sie mit preussisch-protestantischem Ordnungswahn durchorganisiert. Wenn nämlich Deutsche Sozialismus machen, dann nicht „russisch“ oder „polnisch“, sondern richtig! Auf andere Art und Weise als die BRD, aber durchaus in Reaktion auf diese, wollte auch die DDR ein Vorzeigestaat sein, ein Musterland des „Realen“ Sozialismus.
Für die Menschen der DDR bedeutete dies: wer den Supremat der Partei anerkannte und sich anpasste, kam gut durchs Leben. Angst um den Arbeitsplatz oder vor dem Scheitern in der Selbständigkeit war unbekannt. Der Staat sorgte für alles, denn er wollte nichts dem Zufall überlassen. 40 Jahre lief das so, zwei Generationen lang.
Die, die das nicht aushielten, waren irgendwann weg: Vor dem Mauerbau, während der Mauer, oder nach dem Mauerfall: Ab in den Westen! Nur langsam baut sich in den Regionen des Ostens heute wieder eine Zivilgesellschaft auf mit Menschen, die selbst Verantwortung übernehmen wollen und die auch bereit sind, die Obrigkeit auch herausfordern, wenn sie nicht einverstanden sind.
Ob sich dieser emanzipative Geist gegen das traditionelle deutsche Obrigkeitsdenken, dass in der DDR überdauerte (und natürlich auch familiär weitergegeben wird) durchsetzen wird, weiß heute keiner.
Die Zeichen dafür stehen schlecht. In unseren europäischen Nachbarstaaten sehen wir, wie rechtsstaatliche und demokratische Ideale zunehmend nur noch als Hindernis wahrgenommen werden, der jeweiligen stolzen Nation endlich zu ihrem Recht zu verhelfen. Ein Wahnsinn, der nicht zu bremsen scheint. Wenn überhaupt, dann vielleicht in dem Land, das gerade erst zwei große Kriege verloren hat.
Noch vor kurzem war es eine Auszeichnung, Kosmopolit genannt zu werden. Heute ist an dessen Stelle das Wort Internationalist getreten. Es ist keine Auszeichnung mehr, sondern eine Herabsetzung. In einer Zeit des allgemeinen Nationalismus ist der Internationalismus ebenso verächtlich, wie es die Toleranz im Zeitalter der Glaubenskriege war.
Richard-Nikolaus Coudenhove-Kalergi, 1935