Die Bachs, die Unstrut, das Welterbe und ich

// Wie ich auf einer Fastenwanderung durch die Fremde im eigenen Land nicht mehr zu entscheiden wußte, ob ich über den spürbaren Unwillen der Tourismusverantwortlichen, das Land aus der Perspektive des zeitgenössischen Reisenden zu betrachten, weinen oder glücklich sein sollte, und, während ich noch darüber nachsann, wie schön es ist, niemandem zu begegnen, mitten im 17. Jahrhundert landete und eine verwegene Idee von mir Besitz ergriff.

Die Burg Wendelstein beim Memleben. Keine Wegelagerer weit und breit

Von Erfurt unsere Arnstädter Gera hinunter nach Norden, durch das Erfurter Becken bis Sömmerda, sodann an der Unstrut entlang Richtung Naumburg, eine Woche hindurch versorgt nur mit Tee, klarer Gemüsebrühe und Wasser, so war es geplant. Aufgrund der großen Hitze schrumpfte die Reichweite zwar bis nach Laucha, dennoch hatte ich danach einen klaren, keineswegs nüchternen Blick auf meine inzwischen schon nicht mehr so neue Heimat. Schuld daran waren schier endlose Weizenfelder, drei Schlösser und ein Buch.

Bach (1). Das Wasser

Wer entlang der Flüsse Thüringens oder Sachsen-Anhalts läuft, der spürt zuerst: für unser heutiges Leben haben diese Gewässer keine Bedeutung mehr. Ihrer wirtschaftlichen Funktionen entledigt, werden sie eingedeicht und befriedet, der direkte Zugang an’s Wasser, sei es nur um dort zu sitzen oder die Beine in es hineinzuhängen, ist meist nicht möglich. Die Ufer-Promenaden aus den Kurorten des vorletzten Jahrhunderts verweisen auf bessere Zeiten, heute sind sie zugewuchert. Ähnlich ergeht es den alten Mühlbächen, einst die wirtschaftlichen Schlagadern der Städte.

Über Trinkwassergewinnung oder Hochwasserschutz hinaus hatte diese Region bis gestern keinen emotionalen Bezug zum Wasser, nicht an der Saale, nicht an der Gera oder der Ilm, nicht an der Unstrut. Langsam aber erkennt man die Bedeutung von Bächen, Kanälen, Flüssen und Seen für Freizeit, Erholung, Raumgestaltung, Spaß und Sport auch bei uns. Beispiel Erfurt.

Mitmachen! Stadtentwicklung! Erfurt entdeckt die Gera neu und …
… läßt sie mäandern: den Fluß verlangsamen und als öffentlichen Raum wiederentdecken!

Ab dort, wo die Gera die Innenstadt verläßt, weisen in größeren Abständen drei extra errichtete Litfaßsäulen – richtige, aus Beton geformte neue Litfaßsäulen! – auf die geplante Gestaltung der Flußaue hin. Fünf Kilometer lang ist das im Rahmen der Buga 2021 gestartete Projekt „Nördliche Gera-Aue“, für das sogar ein seit Jahrzehnten in den Untergrund verbannter Zulauf wieder Bach werden darf.
(https://www.erfurt.de/ef/de/leben/planen/projekte/buga2021/noerdliche-geraaue/index.html).
Erfurt bekommt einen Flaucher für Sonnenanbeter, Flaneure, Griller, Verliebte und Partygänger und scheint dabei einmal alles richtig zu machen. Ein Vorbild für Arnstadt und seinen ebenso langen Grünstreifen bis nach Ichtershausen!

Sommerfreuden an der Isar, Flaucher, München
Entwicklungspotential in Arnstadt: Zusammenfluss von Gera und Weiße, einst eine „Promenade“, heute Gestrüpp

Wie wichtig das fließende Wasser als urbaner Sehnsuchts- und Erholungsraum noch werden dürfte, erfährt, wer im Hochsommer ab der Höhe Elxleben die Gera verläßt und Richtung Nordost das Alperstedter Rieth durchquert. Direkt hinter der A 71 beginnt die Einsamkeit zwischen Weizenfeldern und trockenen, wenngleich noch grünen Entwässerungsgräben, deren Schattenwurf für den Wanderer wegweisend wird. Trotz einzelner heftiger Gewitter hat es auch 2019 zu wenig geregnet, deutlich abzulesen an den Obstbäumen, den Pflaumen und Birnen, die vielerorts ihre Früchte abwerfen, lange bevor sie reif sind.

Kein Mensch, kein Haus, kein Auto: Hochsommer im Erfurter Becken, dessen grüne Gräben ihm Halt und Schatten geben. Bei Riethnordhausen
Macht aus Agrarwüste Erlebnislandschaft:
alter Baumbestand mit Schattenspiel bei Großrudestedt

Ein Tagesmarsch ist es von Erfurt nach Sömmerda, böse Zungen würden sagen: durch eine Agrarwüste hindurch, Weizen, Weizen, Weizen bis zum Horizont, Monokultur. Glücklicherweise aber ist diese Kulturlandschaft älter als die Agro-Industrie, und so finden sich überall noch Alleen, Hecken und Haine, alte Bäume und dichtes Unterholz, die nicht nur Schatten bieten, sondern den Tieren Lebensraum und dem Auge einen Halt. Stundenlang kein Mensch und kaum ein Auto, nur weite Landschaft, Vögel und Rehe, stundenlang aber auch kein Wasser, schon gar nicht zum Trinken.

Auch in Sömmerda ist Bewegung rund ums Wasser. Um die zentral am Markt gelegene historische Dreyse-Mühle herum wird, mit EFRE-Mittel der EU (ja, es gibt Kommunen, die das schaffen!), der alte Mühlbach ertüchtigt und mit Fischtreppen versehen, und auf dem Markt selbst bietet ein schlichter begehbarer Brunnen in der sommerlichen Hitze Kindern und Jugendlichen Spaß und Abkühlung.

Ein paar Kilometer weiter die Unstrut hinauf, in Bad Langensalza, hat ein kluger Bürgermeister schon vor Jahren beschlossen, die alten Wasserläufe durch die Stadt nicht zu kanalisieren, sondern offen zu lassen und neu in Naturstein zu fassen. In Arnstadt war man leider nicht so klug, die historischen Stadtbäche sind im Untergrund verschwunden oder unzugänglich, und die vielen städtischen Brunnen werden ihrem Namen nicht mehr gerecht: „KEIN TRINKWASSER“!

Zwei der Zukunftsthemen der Stadtgestaltung lauten: SCHATTEN (hier: Riethnordhausen) und …
… WASSER als kühlendes und Freude bereitendes Element. Begehbarer Brunnen in Sömmerda

Die Kirchen

Der Markt in Sömmerda ist überhaupt ein besonderer. Welcher städtische Marktplatz kann schon von sich behaupten, direkt an eine Auenlandschaft anzuschließen, so dass man innerhalb einer Minute vom urbanen Zentrum der Stadt ins Grüne gelangen kann?

Der zentrale Platz in Sömmerda bietet außerdem Rasenflächen mit alten Bäumen, historische Gebäude der Barock- und Renaissancezeit, Industriearchitektur der Gründerzeit, eine große zeitgenössische Skulpurengruppe (Minerva, Wolfgang Dreysse, 2018), ostmoderne Architektur (üppig mit baugebundener Kunst versehen) und, als freistehendes Zentrum des Platzes, eine schöne große Kirche aus dem 16. Jahrhundert.

Der Markt in Sömmerda. Die Kirche in der Mitte stammt aus der Renaissance, nach Süden …
… begrenzt ein Riegel aus der DDR den Platz. 60er Jahre Ostmoderne, bunt und gut gepflegt

Auf meiner Wanderung die Unstrut hinunter, von Dorf zu Dorf, werde ich erleben, welche Bedeutung den Kirchen bis heute zukommt, ganz unabhängig davon, wie gläubig die Menschen sind.

Es beginnt damit, dass es in der bis heute so dünn besiedelten Region, die keine Bauten außerhalb der Ortsgrenzen kennt, immer zuerst die Kirchturmspitze ist, die aus dem die Orte umgebenden Grün herausragt und das Ziel oder die nächste Etappe markiert. Es wird deutlich dort, wo neben der Gesichtslosigkeit der überall anzutreffenden „Fassadengestaltung“ mit Styropor, mit dem sogar 300 Jahre alte Häuser verunstaltet werden (sog. „WärmeDämmBetrugsSystem“), bisweilen einzig die Kirche mit ihrem alten Grün und alten Bäumen, dem Friedhof, Trinkwasserbrunnen, alten Kalkmörteln und Natursteinmauerwerk dem Ort eine Seele und eine Mitte gibt.

Wie seit Jahrhunderten weist die Kirchturmspitze den Weg. Schönewerda
Gläubig oder nicht, die Kirchen sind Mitte und Identität jeder Thüringer Kommune. Riethgen

All diese Kirchen stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Sie waren großzügig ausgestattet mit Kunst und Orgelwerk, mit hohen Emporen und großen Fenstern und wurden errichtet in einer Zeit, in der wirtschaftlich und kulturell der Grundstock gelegt wurde für das, was der Mitteldeutsche Raum bis heute ist: eine unendliche Schatz- und Wunderkammer. Kein Dörflein in diesen Landen ohne diese alten Kirchen, die uns, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, darauf verweisen, wo wir leben und woher wir kommen.

Ohne über Dorfkirchen nachzudenken, hatte ich in meinen Rucksack zum spärlichen Gepäck ein Buch gesteckt, das mich genau in diese Zeit führen sollte. Ich hatte es ausgewählt, weil das Thema Johann Sebastian Bach für Arnstadt ein immer wichtigeres Thema werden wird und ich den Autor Volker Hagedorn bereits auf einer Lesung zum Arnstädter Bach-Advent 2018 kennenlernte. Es heißt Bachs Welt und befaßt sich über fast 400 Seiten mit allem möglichen, nur mit einem so gut wie nicht: dem Leben von Johann Sebastian Bach. Aus gutem Grunde.

Bach (2). Die Musik

Dreizehn Bachs leben jetzt, 1656, in dem Residenzstädtchen am Fuße des Thüringer Waldes (Arnstadt, A.d.V.). Caspar Bachs Witwe Caterina ist hochbetagt gestorben, in ihrem Haus in der Jakobsgasse wohnt ihr einziges noch lebendes Kind, Christina, mit ihrem Mann. Die jungen Bachs, die jetzt in Arnstadt und Erfurt herumlaufen, erleben das Musikerdasein als etwas Selbstverständliches in einem Land, das sich langsam vom Krieg erholt.
(Volker Hagedorn, Bachs Welt, Hamburg 2017, S. 108)

„Meine Freundin, du bist schön“ vom Johann Christoph Bach, dem Sohn des Heinrich aus Arnstadt, ist ein herausragenes Werke der Musikgeschichte. Es ist weder Kirchen- noch Hofmusik, sondern eine Liebesarie, die JCB seinem gleichnamigen Cousin zur Hochzeit gestiftet hatte. Volker Hagedorn macht aus dieser Hochzeit ein hinreißendes Sittengemälde aus der Mitte des 17. Jahrhunderts

Wir befinden uns in Arnstadt, 30 Jahre vor Bachs Geburt, als dessen Vater und Onkel, die Zwillingsbrüder Ambrosius und Johann Christoph, zu Stadtpfeifern und Violinisten heranwachsen und die deutsche Hof- und Kirchenmusik begierig alles aufsaugt, was an Neuerungen aus Italien und Frankreich kommt. Von den Türmen blasen die Türmer die Zeit und was es zu vermelden gibt, jedes Ereignis, jeder Markt, jede Geselligkeit und Versammlung geht mit Musik und Gesang einher, je später der Tag desto deftiger. Am Fließband wird komponiert für Verlobungen, Hochzeiten, Bankette, Begräbnisse oder Taufen auch der Kaufleute und Handwerker, von der höfischen und kirchlichen Musik mal ganz abgesehen.

In der Welt des Barock war Musik allgegenwärtig. Da es weder Radio, Schallplatten noch mp3-Player gab, mußte musiziert werden. Wer Flöte, Zink, Dulzian oder Laute nicht selbst beherrschte, was viele taten, bestellte sich einen Musikus. Streng war in den Städten geregelt, welcher Berufsmusiker zu welcher Gelegenheit wem aufspielen durfte und sich so etwas dazuverdienen. Die Gottesdienste waren voll, und alle sangen die Choräle mit.

Das 17. Jahrhundert war aber auch das Jahrhundert des Dreißigjährigen Krieges mit seinen nicht enden wollenden Verwüstungen, der Pest, die 1683 in Erfurt zwei Drittel der Stadtbevölkerung und einen ganzen Zweig der Familie Bach auslöschte, der Hexenverbrennungen und einer extremen Kindersterblichkeit. Die Menschen starben bisweilen wie die Fliegen, und wer 60 Jahre alt wurde galt als hochbetagt. Kummer und Not spiegeln sich in der Musik und der Literatur dieser Zeit. Nicht minder aber auch die Lebensfreude, Liebe, Erotik und Geselligkeit, die all jene besonders empfinden konnten und genossen, die Krieg und Elend endlich überstanden hatten.

Die Musik von Johann Sebastian Bach ist Höhepunkt, Fundament und Essenz der abendländischen Musik. Wer das so empfindet, will verstehen, warum. Volker Hagedorn leistet mit seinem Buch einen Beitrag, diese Frage zu beantworten

Das 17. Jahrhundert markiert für Deutschland den Übergang von einer noch stark von Aberglauben und Unwissenheit geprägten Gesellschaft hin zu Wissenschaft und Aufklärung, zu grenzüberschreitendem Austausch gedruckter Abhandlungen europäischer Gelehrter und Humanisten (Galilei! Newton!) zur Blüte von Kunst und Kultur. Ganz besonders erblühte der mitteldeutsche Raum, dessen Grafschaften und Kleinstaaten, vergleichbar nur mit den Stadtstaaten der italienischen Renaissance, darum wetteiferten, wer die besten Musiker, die klügsten Gelehrten, die besten Schulen, die kunstfertigsten Maler und die beeindruckendsten Wunderkammern unter seinem Dach versammeln konnte.

Es war eine harte und anspruchsvolle Welt, die auch die Musik, die Mehrstimmigkeit und den Kontrapunkt in immer neue Höhen treiben wollte und in der Fleiß und gottgefälliges Leben längst zu Synonymen geworden waren. In diese Welt wurde Johann Sebastian Bach 1685 geboren, in eine Familie, in der die Kinder das Musizieren lernten zugleich mit dem Laufen und dem Sprechen, und in diese Welt entführt mich Volker Hagedorn, dessen Buch ich wandernd begierig lese, wie andere die Nachrichten auf ihrem Endgerät, den Blick gesenkt.

Ich kann es mir erlauben, denn Gegenverkehr gibt es nicht, wiederum bin ich über Stunden alleine unterwegs. Ob in den Dörfern oder am Fluß: kein Mensch wird mir begegnen. Die die hier noch wohnen, arbeiten woanders, und wie in Amerika ist das Auto das einzige Verkehrsmittel. Fußwege, die Orte verbinden, gibt es nicht.

Der Radweg

Ich verlasse Sömmerda entlang der Unstrut. Einen Radweg, immerhin, gibt es, sogar eine Internetpräsenz des Unstrut-Radweges. Doch scheint die Welt davon nichts mitbekommen zu haben. Es ist Sommer, Ferienzeit, Mitte Juli, das Wetter phantastisch. Ich laufe durch eine geschichtsträchtige deutsche Landschaft voller Dinge eines Besuches würdig, und begegnen mir: 1 bis 2 Radfahrer pro Tag, eher nicht touristischer Herkunft. Erst in Sachsen-Anhalt scheint etwas Leben auf den Asphalt zu kommen. Woran mag es liegen?

Die Einsamkeit der Unstrut hinter Sömmerda

Vielleicht ist ein Radweg einfach mehr als ein Weg auf einem Damm, der im Zuge eines Hochwasserschutz-Deichbauprogrammes der EU mal rasch mitfinanziert wurde?

Zusätzlich könnten meines Erachtens sinnvoll sein: eine deutliche und spezifische Wegweisung mit GROSSEN Schildern und Pfeilen, Hinweise vor Ort auf Sehenswertes auch abseits des Weges, alle paar Kilometer Rastplätze mit Bänken und Tischen, möglichst schattenspendend oder überdacht, Hinweise auf Wasserstellen und Gastronomie, radspezifische Versorgungsstationen (selbstgemachte Kuchen! Limonade!) oder Hinweistafeln zu Flora, Fauna, Geologie oder Geschichte, damit neben dem Spaß auch die Bildung nicht zu kurz kommt.

Nichts davon zu sehen auf dem Unstrut-Radweg. Einmal mehr verstärkt sich der Eindruck, dass ein professionelles touristisches Management nicht gegeben ist und sich thüringisch verfangen hat zwischen „hatten wir noch nie“, „kein Geld“ und einer tief verankerten Abneigung gegen fremde Kulturen, wie bekanntlich der Radtourismus eine ist.

Der wogende lichte Weizen gibt den Blick frei bis zum Horizont, öffnet den Geist und erhebt den Wanderer über …
… die Niederungen der touristischen Vermarktung eines Radweges oder das Fehlen einer Brücke. Hose runter und durchgewatet

Vielleicht aber werden wir in Zeiten des überall um sich greifenden „Overtourism“ noch froh sein über die Trägheit unserer Verwaltungen, die einen einsamen Wanderer wie mich zum König über den Radweg macht!

Und ich beginne mir vorzustellen, alle 2 Minuten klingelte ein Papa mit seinem Touren-Bike, um mich auf seine mitstrampelnde Familie aufmerksam zu machen (stehen bleiben, umdrehen, freundlich schauen, „hallo“ sagen), oder dass ich zur Seite springen muss angesichts der Rentner-E-Bike-Kolonnen, die mit zu hoher Geschwindigkeit auf dem schmalen Asphalt dem Wanderer, der hier sowieso nichts verloren hat, das Fürchten lernen. Ich beginne zu erkennen: Thüringen, du machst alles richtig. Wir haben es nur noch nicht alle erkannt!

Die Burgen und Schlösser

In jede Himmelsrichtung alle 30 Kilometer eine Residenz, dazwischen Kemenaten, Burgen, Festungen, Lust- und Landhäuser, Wasserschlösser und historische Gärten, Renaissance-Rathäuser und Ruinen, Klöster und Kirchen, das ist Thüringen, und das ist auch die Landschaft, durch die ich weiter wandere, die Unstrut hinunter in Richtung Artern.

Es dauert nicht lange, und es blitzt am westlichen Horizont etwas auf, was nach Schloß ausschaut, Bauart Renaissance, leider auf der anderen Seite der Unstrut, deren Brückenspärlichkeit mich zu einem weiten Umweg zwingt.

Schloss Kannawurf vom „Italienischen Garten“ aus gesehen
Viel Originalsubstanz ist hier noch erhalten, auch innen

Von Kannawurf und seinem Schloss hatte ich noch nichts gehört, umso beeindruckter bin ich, als ich es endlich erreiche. Eine große Tafel weist auf all die Fördermittelgeber hin, die hier einen ambitionierten Verein unterstützen, die Rekonstruktion einer Renaissance-Gartenanlage aus dem 16. Jahrhundert ist in Arbeit.

Das Schloss ist in gutem Zustand, die Sanierungsarbeiten werden behutsam und substanzerhaltend ausgeführt, auch innen bestimmen historische Baumaterialien und originale Ausstattungen das Bild, aus den Mauerruinen eingefallener Stallungen sind italienische Gärten geworden mit prächtigen blühenden Oleandern. Im Schlosshof wimmelt es vor Schüler*innen, die hier ihr Sommercamp aufgeschlagen haben. Abenteuerurlaub zuhause.

Ich lerne einen der Verantwortlichen kennen, ein handvoll Leute aus Halle/Saale haben das Schloss übernommen, für das sich keiner interessierte. Wir kommen ins Gespräch und ein Stichwort gibt das andere. Hier sind Leute am Werk, die wissen was sie tun, Gott sei Dank.

Schloss Kannawurf aus dem Jahre 1564 soll nicht das einzige Schloß sein, das ich auf meiner Fastenwanderung entdecke. Nur eine Tagesetappe weiter stoße ich, inzwischen auf der Straße unterwegs, kurz vor Memleben auf das Hinweisschild „Burg Wendelstein“, mir bis dato ebenfalls kein Begriff.

Durch eingewachsene Gewölbe und Burgfriede hindurch betrete ich eine riesige, verfallende Festungsanlage auf einer Anhöhe oberhalb einer Schleife der Unstrut, teilweise mit Industriearchitekturen aus dem 19. Jahrhundert bebaut, ebenfalls am Verfallen, und einem inneren Burgfried, wohl erhalten und in Privatbesitz, aber dankenswerterweise öffentlich begehbar, sofern man sich „respektvoll benimmt“, wie eine Infotafel vermerkt. Ehrensache. Außerdem steht hier: „Wohnungen zu vermieten“.

Was ich sehe, raubt mir den Atem. Ein weiterer magischer Ort, irreal fast.

Einfach so am Wegesrand, gepflegt, wenngleich in prekärem Zustand: Gewölbe des äusseren Burgwalls des Wendelsteins
Auch das 19. Jahrhundert hat sein Spuren hinterlassen. Was könnte man hieraus für Wohnungen machen!
Seitengebäude aus Renaissancezeit. Das Dach ist dicht. Alles andere wird sich finden
Nimm Platz, mein Freund, einen solchen findest du nicht so schnell ein zweites Mal. Hell und golden leuchtet das Land zu Füßen des Wendelsteins. Spektakulär. Erhebend. Vergiß Berlin!

Schließlich das Schloss Burgscheidungen. Ebenfalls auf eine Anhöhe gelegen, umfaßt von prächtigem alten Baumbestand, Parkanlage, tollen Sichtachsen, einer Kapelle, den üblichen Nebengebäuden und einer kleinen Gemeinde, macht das Barockschloss einen wohlbehaltenen Eindruck. Was man dem Netz entnehmen kann, ist allerdings innen nicht mehr viel an Substanz erhalten. Wie so oft haben auch hier die DDR-Verachtung des feudalistischen Erbes und neue Nutzungen im Sinne des „Realen Sozialismus“ ganze Arbeit geleistet.

Hineinschauen kann ich nicht, Führungen sind aber möglich, auch Heiraten kann man hier. Das Bedürfnis nach romantischer Kulisse trägt oft einen Teil der enormen Kosten, die der Unterhalt eines solchen Gebäudes macht. Geld verdienen kann man damit nicht, nicht hier, inmitten der ostdeutschen Provinz.

Baumaße, geschätzt: 20.000 Kubikmeter umbauter Raum, soviel wie 50 Einfamilienhäuser, ca. 3000 Quadratmeter Nutzfläche. Wer sein Geld gemacht oder anständig geerbt hat, möge es in ein Schloss anlegen, selbst darin wohnen und die Freiheit genießen, auch die Freiheit von Fördermittel. Je nach Sanierungsbedarf sollte man über einen ein- bis zweistelligen Millionenbetrag frei verfügen können. Alles andere führt ins Unglück.

Zum Glück gibt es solche Menschen.

Schloss Burgscheidungen
Wieviel Kraft gibt es, jeden Tag solche Blicke tanken zu können?
Alte Bäume, alte Mauern, Schlossgarten. Keine zeitgenössische Gartenanlage kann da mithalten

Bach (3). Das Weltkulturerbe

„Das ist Thüringen“ lautet eine Kampagne des Landes, und mit großformatig abgebildeten Autos, Flugzeugen, Fotomodels oder der Wagenfeld-Lampe wird in Flughäfen für das „Image“ geworben. Die Botschaft lautet: Wir sind mindestens so gut, modern und erfolgreich wie Baden-Württemberg. Kommt zu uns!

Aber die Kampagne geht vorbei an dem, was Thüringen tatsächlich auszeichnet. Die 40 Jahre Vorsprung Bayerns, Baden-Württembergs oder Hamburgs in Sachen Akkumulation von Reichtum sind ohnehin nicht einzuholen, und das ist auch gut so! Sollen sie ihren ländlichen Raum zersiedeln und die Städte weiter in autogerechte Spekulationsobjekte verwandeln: dem Zuzug und der Rückkehr nach Thüringen, Mecklenburg oder Sachsen-Anhalt wird das Rückenwind geben.

Thüringen verkörpert deutsche Bau-, Kultur- und Geistesgeschichte in ungewöhnlicher Dichte und in ungewöhnlichem Erhaltungszustand – zum Anfassen, Anschauen, darin Leben und Genießen. Es verkörpert damit ein Potential an Lebensqualität, das täglich wertvoller wird, und das die aus den Metropolen Flüchtenden, so sie hierher finden, auch immer deutlicher spüren.

Joh:Seb:Bach schaut auf Rathaus, Markt und „seine“ Neue Kirche (ganz rechts). Nichts hat sich hier verändert seit 300 Jahren

Ein ganz besonderes Beispiel dafür ist Arnstadt. Geologische Lage, historische Bausubstanz und Stadtstruktur, Verkehrsführung, Nähe zur Landeshauptstadt, Nähe zum ICE-Knoten, Naherholung – überall Spitzenwerte für die hardware. Nachholbedarf sicherlich bei den weichen Faktoren, Wohnen, Bildung, Gastronomie und (Kunst-)Handwerk, Hotellerie, Lebendigkeit der Innenstadt, urbanen Kulturen und anderem. Aber das entwickelt sich soeben.

Das größte Pfund der Stadt Arnstadt ist Johann Sebastian Bach. Nicht nur, weil er hier vier Jahre als Organist wirkte, sondern weil Arnstadt unter allen Städten, die sich mit seinem Namen schmücken, DIE Bachstadt überhaupt ist. Sorry, Leipzig, sorry Eisenach, aber es ist so. Aus zwei Gründen:

1 ) Arnstadt ist die einzige Stadt unter den Bach-Städten, in der nicht nur besonders viele originale Bach-Schauplätze aufzusuchen sind, sondern deren barockes Gepräge des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, wie ER es erlebte, noch existiert.

Eisenach ist durch die Gründerzeit überformt, Weimar durch die Klassik geprägt, und Leipzigs Zentrum ist das Zentrum einer modernen Handelsmetropole, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch Messe und moderne Architektur bestimmt. Zudem definieren sich diese Städte primär durch andere Namen, Eisenach durch die Wartburg und Luther, Weimar durch die Deutsche Klassik, Nietzsche, List und neuerdings auch durch das Bauhaus („ach, Bach war auch in Weimar?“). In Leipzig bildete Bach zwar das Fundament einer blühenden Musikstadt, hier aber liegt der Fokus auf den Musikern des 19. Jahrhunderts. Heute ist die sächsische Metropole eine boomende Hipsterstadt.

Joh:Seb:Bach, wie Bernd Göbel ihn gesehen hat, 20 Jahre jung. Seit seinem 300. Geburtstag im Jahr 1985 steht er auf dem Arnstädter Markt

2) Arnstadt ist die Stadt der Familie Bach, die Volker Hagedorn uns so lebendig vor Augen führt. Vom Hofmusiker und Türmer Caspar über Johann Sebastian bis zu seinem Vetter Ernst lebten rund 100 Jahre zahlreiche Mitglieder und Nachkommen der Wechmarer Bachs als Musiker in Arnstadt, als Hof-, Stadt- und Kirchenmusicii und Organisten. Bedeutsam vor allem Heinrich und seine Söhne Christoph und Michael, die in der Oberkirche und der Liebfrauenkirchen wirkten, welche somit neben der Neuen Kirche ebenfalls „Bachkirche“ sind.

Eine Route durch Arnstadt auf den Spuren der Bachs ist längst ideell vorhanden, sie umfasst gut ein Dutzend Gebäude. Arnstadt verfügt mit dem Göbelschen „Flegel“ auf dem Markt über ein geniales Denkmal, das den Musiker perückenlos und bar jeder nationalen Vereinnahmung zeigt, Wechmar, Ohrdruf und Dornheim liegen als weitere wichtige Bach-Orte in unmittelbarer Nachbarschaft.

Arnstadt atmet den Geist der Zeit des Johann Sebastian Bach. Wie Weimar für die Deutsche Klassik, steht Arnstadt für die Musik des Barock.

Aus diesem Grunde bereitet das Thüringer Bach Collegium (https://www.bachland.de), offizieller Bach-Botschafter des Landes Thüringen, seinen Umzug von Weimar nach Arnstadt vor. „Weil Arnstadt DIE Bachstadt überhaupt ist, wollen wir hier unser Zelt aufschlagen“, so Christian Bergmann, Contrabassist und Sprecher des Ensembles.

Gernot Süßmut, Leiter und Mitgründer des Collegiums, ergänzt:
„Wir sollten Arnstadt motivieren, als Bachstadt die Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe zu beantragen“.

Das Thüringer Bach Collegium vor der Oberkirche in Arnstadt.
Foto: Matthias Eckert

Johann Sebastian Bach ist als bedeutendster Musiker der europäischen Kulturgeschichte zweifelsfrei Teil des Weltkulturerbes im Sinne der UNESCO, die mit der h-moll-Messe 2015 bereits eine einzelne Komposition in ihre Liste aufgenommen hat.

Nach sieben Tagen wandern durch die Thüringer Kulturlandschaft, zugleich fastend das Wesentliche vom Unwesentlichen scheidend, erscheint mir diese Idee aus Musiker-Kreisen nicht nur nicht absurd, sondern zwingend. Ich habe kein Zweifel mehr, dass es Arnstadt gelingen sollte, wenn es sorgsam vorbereitet wird.

Welcher Stadt sonst?

Fastenwandern, mit klarer Brühe am Abend
Fastenbrechen, mit Weißburgunder im Weingut von Klaus Böhme

5 Gedanken zu „Die Bachs, die Unstrut, das Welterbe und ich“

  1. Ein riesiges Lob an den Verfasser dieses Beitrages! Ich konnte gar nicht aufhören zu lesen und die Fotos zwischendurch sind ebenfalls sehr passend. Danke für die kleine Lobeshymne auf meine Geburtsstadt Sömmerda. Dass die Nähe des Marktes zum Stadtpark so etwas Besonderes ist, war mir bisher nie aufgefallen. Inzwischen lebe ich in der Nähe von Arnstadt und habe beim Lesen bemerkt, dass ich mich bisher noch viel zu wenig mit der Geschichte dieser Stadt befasst habe, das wird sich ändern (sofern es meine Zeit zulässt…).
    Die im nördlichen Teil Thüringens erwähnten Schlösser und Burgen sind mir zum Teil noch unbekannt, aber auch das wird sich ändern. Ich bin mit meinem Mann schon länger dazu übergegangen, die nähere Umgebung intensiver zu erkunden, anstatt per Flugzeug in fremde, ferne Länder zu düsen, um mir dort einen Sonnenbrand zu holen.
    Danke für die Inspiration und ich bin gespannt, ob es weitere derartige Beiträge geben wird.

  2. Lieber Jan,
    wie alle anderen, so auch dieser Beitrag ein Genuss! Es ist sehr wohltuend, aus Deiner sachlich-emotionalen Perspektive (was ja eigentlich ein Widerspruch sein müsste) „die Heimat“ beschrieben zu bekommen. Ohne veraltete Vorurteile oder Jammerei. Auch für mich ist die Unstrut eine der wohltuendsten Landschaften in der Umgebung hier. Besonders kann ich hier auch den wundervollen Blick über das weite Unstruttal bis hin zum „Dicken Wilhelm“ empfehlen (wo man übrigens auch unbedingt gewesen sein muss!!), vom Vorplatz der romanischen Kirche in Zscheiplitz aus zu sehen. Kennengelernt bei einem Besuch mit Weinverkostung im dortigen sehr (!) besonderen Weingut… Hier fühle ich mich immer wieder sehr an die „richtige“ Toskana erinnert, was die schönen Erinnerungen dorthin auch relativiert und in ein besseres Verhältnis setzt.
    Also wiedereinmal: auf gehts in bekannte unbekannte nahe Gefilde! Danke und herzliche Grüße von Ludwig V.

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