New York City 2012 // Protokoll einer unvermeidlichen Reise

Dieser Beitrag ist auch hier als PDF zum Download erhältlich.

Ich war noch nie in New York. Judith auch nicht. Kurz vor meinem 50. Geburtstag beschlossen wir, dass das nicht so bleiben könne. Eine Stadt, die alle für den Mittelpunkt der Welt halten, und deren New York Times in Sachen Journalismus die Maßstäbe setzt, wollten wir zumindest einmal erlebt haben.

Bis es soweit war, vergingen noch einmal zwei Jahre. Erst dann gelang es uns, ein Zeitfenster zu erzwingen. In einem Akt präseniler Torschlußpanik buchten wir einen Flug und ein Zimmer für zehn Tage New York – im Januar 2012.
Zugleich hatten wir Vorbehalte: Fallen wir nicht auf einen hipe herein? Seit wann fahren wir irgendwohin, bloß weil alle dorthin fahren? Ist das nicht gerade ein Argument dagegen? Ist es natürlich nicht.
So nahmen wir eine dialektische Haltung ein. Erstens: Auch das touristische Venedig ist das Grauen, dennoch ist Venedig bis heute faszinierend. Zweitens wird diese Reise zumindest gut dafür sein, sich den Rest der Mega-Metropolen dieser Welt ersparen zu können. So oder so.
Und schließlich: seit sieben Jahren lebten wir in der ostdeutschen Provinz und verspürten richtig Lust auf Großstadt. Es war auch das Bedürfnis nach Avantgarde und Bohème, nach stundenlangem Zeitunglesen im Kaffeehaus, nach Großstadtbrache und Kunstmoderne, das uns über den Atlantik trieb.


Gliederung:
I _Arrival
II_Brooklyn
III_Red Hook
IV_The Train
V_Manhattan
VI_Communities
VII_Dim Sung
VIII_Metropolitain Museum
IX_Brooklyn Museum
X_Lower East Side
XI_Satmar
XII_Williamsburg


I _Arrival

Weil viele schon in New York waren, erhielten wir eine Menge Tips, wo wir hinmüßten zum Schauen und zum Essen. Viel anfangen konnten wir mit den meisten dieser Empfehlungen nicht, denn entweder waren sie redundant (Empire State Building), oder zu teuer (Peter Luger Steak House) – oder wir verstanden sie nicht (Katz‘s Deli).
Hinzu kam, daß wir mit New York City einen Kulturraum betraten, der uns fremder war als wir es erwartet hatten. Darüber, interessanterweise, hatte uns niemand aufgeklärt. Ohne diese Lektion aber begreifst du nicht und verhältst dich falsch.
Es begann schon damit, daß uns Mark, der Wirt unseres B&B in Prospect Lefferts Gardens, Brooklyn, zwar den sehr richtigen Tip gab, mit der Eastern-Taxigesellschaft vom Kennedy-Airport zu seinem Brownstone fahren zu lassen, zu einem fixed price von 35 Dollar, was uns angesichts der Entfernung ziemlich ok vorkam.
Was er aber nicht sagte, war, daß 35 Dollar nicht 35 Dollar sind, sondern mindestens 42 Dollar. Diese sieben Dollar sind der Lohn des Fahrers für eine Dreiviertelstunde Chauffierens. Meine drei Dollar Trinkgeld hat er wahrscheinlich unter der Abteilung Arschloch abgebucht. Für die Rückfahrt wußten wir es besser. Dies war unsere erste Lektion.
Der tip ist in New York nicht ein mehr oder weniger freiwilliges Zubrot für einen unterbezahlten Chauffeur oder Serviceangestellten, sondern fester Bestandteil der Rechnung. Insbesondere in der Gastronomie erhält das Servicepersonal oft keinen festen Lohn, es lebt zu 100% vom tip.
You germans never understand, but you MUST tip at least 20%, sagt Mark, und macht sich über seine deutschen Gäste lustig, die sich regelmäßig über die ausbeuterischen Verhältnisse in der amerikanischen Gastronomie empören.
Wir lernen, daß dieser Preisbestandteil auf keiner Speisekarte ausgewiesen wird (ebensowenig die 7% tax, die ebenfalls aufgeschlagen werden). Sie werden nicht ausgewiesen, weil sie selbstverständlich sind. Jeder weiß es.
Die besseren Restaurants berechnen neben den 7% tax die 20% tip freundlicherweise gleich bis auf zwei Stellen genau hinter dem Komma – nach dem Essen auf dem Kassenbeleg. Wie wenig freiwillig der tip ist, sieht man auch daran, daß unter der Notierung desselben eine weitere Zeile einen Eintrag erwartet: die für den additional tip. Alles zusammen ergibt dann den tatsächlichen Rechnungsbetrag.
Angeblich lebt das New Yorker Kneipenpersonal nicht schlecht davon, 100 $ die Stunde sind laut Mark keine Seltenheit. Wer wie wir irgendwo zwischen der Lower East Side und midtown durch jene Viertel streift, in denen er coole Kneipen und Galerien erwartet und dort einkehrt, macht eine weitere Erfahrung, die Marks Behauptung stützt.
Was nämlich gar nicht geht in Manhattan, ist: einfach sitzenbleiben. Sobald du ausgetrunken hast, kommt die Rechnung, nach der du niemals fragen mußt.
Der sie begleitende und durchaus freundlich gemeinte Hinweis no hurry ändert nichts an der Tatsache, daß du den Tisch räumen mußt – für die nächsten Gäste. Die warten schon, denn fast alle Cafés, Kneipen und Trattorien, die wir aufsuchten (insbesondere natürlich die empfohlenen), waren rappelvoll. Entsprechend die Hektik.
Für Touristen, die stundenlang durch die Kälte gelaufen sind, ist das nicht so toll. Zum Seele-baumeln-lassen landen wir deswegen bald in der New York Public Library, einem neoklassizistischen Gebäude von 1911.
Freier Eintritt, freundliche Leute, geheizte Lesesäle zum Zeitunglesen oder zum Online-gehen. Darüber hinaus eine kaum beachtete Ausstellung in den Gängen der Library anläßlich Ihres 100jährigen Bestehens. Zeitgenössische Grafik und Fotografie, die ich ungestört genießen darf.

Objekt 12-13-16 by Marc Lüders / NY Public Library

Eine Arbeit fällt mir dabei besonders auf: eine kleine SW-Fotografie eines Ruderbootes, das Boot weiß und pastos mit Öl übermalt. Ich mache ein Foto vom Foto mit Namensschildchen daneben, weil ich mir den Namen anders niemals merken werde: Marc Lueders. Klingt ziemlich deutsch, ausgerechnet.
Das Bild hängt neben einem 30×40 Barytprint von Hiroshi Sugimoto, einem prächtigem Kinointerieur, als Langzeitbelichtung bei laufendem Film fotografiert. Keine schlechte Nachbarschaft. Ich mache auch hiervon ein Foto.
Zurück zum Thema Essen und New York. Nachdem uns einige Empfehlungen schlicht zu teuer sind oder uns der Geruch des Frittierfetts so abtörnt, daß wir auf dem Absatz kehrt machten (zB. Katz‘s Deli – jeder NYC-Kenner meint, da mußt du rein, wir habens trotzdem nicht hingekriegt), landen wir dank Judiths Trüffelnase in einer Trattoria, die keiner unserer Freunde kannte, nicht Mark aus Brooklyn, nicht unsere amerikanischen Freunde und auch nicht unsere Tipgeber aus D.
Sie heißt Sauce und ist in 78 Rivington Street in der Bowery. Dort gibt es z.B. bollito misto. Das letzte Mal daß wir das auf einer Speisekarte gelesen haben, war in einem emilianischem Landgasthof inmitten der Poebene. Jetzt sitzen wir zusammengepfercht an einem Minitisch, aber es stimmt nicht nur die Speisekarte, es riecht auch gut, nach grünem Olivenöl, frischen Zutaten und Kräutern.
Bollito misto ist gekochtes, einfaches und gemischtes Fleisch von Schwein und Rind, meist mit ebenfalls gekochtem Gemüse, hier Artischocken, carciofi. Italienische Küche, die dich vergessen läßt wo (und wie) du sitzt. Gibt es so etwas in Deutschland? Uns fällt die Osteria in München ein, aber die ist trotz ihres Namens ein sehr feines Ristorante, mit gefühlten 100 Metern Abstand zum Nachbartisch, weshalb wir schon lange nicht mehr da waren. Hier ist es eng, laut, bumsvoll und bedient wirst du von Studenten und hispanics. Für uns eine neue Erfahrung.
Auch im Sauce durften wir nicht länger bleiben als es dauert, den Nachbartisch neu einzudecken. Natürlich hätten wir noch weiter Wein bestellen können, aber ein Glas Wein ist in New York gerademal ein Schluck, kaum nullkommaeins in Gläsern ohne Strich, und der kostet auch im Sauce letztlich zehn grüne Mäuse. In südeuropäischen Maßeinheiten: das Viertel für 25 $. Da hilft auch der immer noch günstige Dollarkurs nicht viel. Bei einem richtigen Abendessen geht unter 50 Dollar pro Person nichts in Manhattan. Keiner regt sich darüber auf. Was glaubst du wo du bist?
Die ursprüngliche Idee, uns zehn Tage mit Blechpizza, Falaffel und sonstigem Studentenfutter zu versorgen, wie wir es in Italien oder auch in Berlin beherrschen, geben wir auf. Vielleicht im Sommer.
Aber im Januar brauchst du in der fremden Stadt am Abend eine Adresse zum Einkehren. Vielleicht sollte man fremde Städte sowieso nur besuchen, wenn man dort Freunde hat, bei denen man schlafen und mit denen / für die man auch mal kochen kann.

II_Brooklyn

So aber wohnten wir, wie schon gesagt, in einem bed&breakfast in Brooklyn, das wir im Internet entdeckt haben. Es liegt auf der anderen Seite des East Rivers, und dort auf der Ostseite von Prospect Park.
Es handelt sich um die Gegend um Flatbush Avenue in Höhe des Parks, mit Wohnblocks aus den 30ern und 50ern mit anständig gestalteten Klinkerfassaden und beschaulich-bürgerlichen Seitenstraßen mit viktorianisch anmutenden, offensichtlich nach einem strengem Gestaltungskodex errichteten brownstones aus der Zeit um 1890.
Diese Häuser sind sehr typisch für Brooklyn. Sie bestehen alle aus beigem, braunem oder rötlichem Sandstein, mit einem Treppchen rechtsrunter ins Souterrain und linksrauf zur Eingangstüre, sehr schmal, S+E+2, mit Flachdach und einem schwarzem Gesimse, das die Fassade nach oben abschließt und immer eine ganze Reihe von Häusern verbindet. Jedes Haus ist anders, aber alle gleichen sich. So bekommt der Straßenzug ein Gesicht.

Rutland Road, Brooklyn
Rutland Road, Brooklyn

Das feine Park Slope auf der anderen Seite des Parks besteht fast nur aus solchen Häusern. Offensichtlich waren hier um die vorletzte Jahrhundertwende Städteplaner am Werk, die wußten, daß man Architekten nicht von der Leine lassen darf. Bis heute scheint es eine Wertschätzung dieses tradierten corporate designs zu geben. Eine Malerinnung mit Farbmusterfächer? Fehlanzeige. Dämmen mit Sondermüll? Blödsinn! You Germans!
Flatbush Avenue selbst, die Hauptader unserer Gegend, ist ein ziemlicher Kontrast zu ihren beschaulichen Seitenstraßen. Eine Straße, deren Erscheinungsbild nicht jedermanns Sache ist, die uns aber irgendwie vertraut war: Cottbuser Damm, Neukölln. Nur daß die Türken hier die afro-americans sind. Auf 100 Meter kommen 3 Waschsalons, 4 Friseure, 5 Nailart-Studios und 6 Imbißbuden. Überhaupt ist Brooklyn Berlin ähnlich. Was man von Manhattan wirklich nicht behaupten kann.
Hier, um Flatbush Avenue herum und in unserer Seitenstraße, wohnen keine Weißen. Mark, unser Wirt, ist eine Ausnahme. Er hat sein Haus vor ein paar Jahren gekauft, ein Haus mit einer Geschichte von schwarzen Vorbesitzern, zuletzt von einer Frau, der die New York Times vor zwölf Jahren einen Nachruf widmete.

Ethel_Brown_Fitzgerald
Ethel Brown Fitzgerald / unbekannter Maler

Ethel Brown Fitzgerald war demnach Juristin, Musiklehrerin und ausgebildete Cellistin und hatte sich in der Verwaltung der Stadt für eine Reform des Schulwesens im Sinne größerer Chancengleichheit eingesetzt. Als Cellistin trat sie mit den New York Philharmonics auf.
Kurz nachdem sie im Jahr 2000 Mark das Haus verkauft hatte, starb sie an Krebs. Im Foyer des Hauses hängt ein schönes Portrait von Ihr in Öl auf Karton. Mark fand es als er einzog. Sie hatte es einfach dagelassen.
Mark hat für sein Haus eine Million Dollar gezahlt. Statt drei Millionen, die das gleiche Haus auf der anderen Seite des Parks gekostet hätte, wie er sagt.
Unser Wirt ist ein lässiger Typ, immer gut aufgelegt, der in seinem Haus genau soviel repariert wie unbedingt sein muß. Die Zimmer und beide Bäder auf den Etagen für die Gäste (die man sich teilt mit zwei bis vier weiteren Gästen, falls vorhanden) sind im Originalzustand. Alte Armaturen, altes Porzellan, Badewanne mit Füßen, schwere Gußheizkörper, die manchmal seltsame Geräusche machen.
Hygienefanatiker, die sich bei TripAdvisor über angeblichen Staub in Marks Zimmer beschweren, hätten lieber im Marriot buchen sollen. Wir fanden‘s klasse. Alte Möbel, Stuck an der Decke, ein stillgelegtes Wandtelefon aus Bakelit für den nichtvorhandenen Zimmerservice und ein kleiner Erker zur Straße, die kaum Verkehr hat: das Osborne-Zimmer war uns die passende Schlaf- und Lesehöhle, wenn die Lust zum Rausgehen nicht aufstehen wollte.
Frühstück gibt’s bei Mark immer um neun, alle an einem Tisch. Der Kaffee, den man sich den ganzen Tag über aus einem Filterpad-Gerät holen kann, war sehr gut. Eines Morgens hatte Mark beschlossen, daß wir unbedingt french toast probieren müßten: Toast mit reichlich Butter und Zimt, dann maple sirup drüber. Das war allerdings gar nicht unser Ding.
Da Marks Haus immer gut besucht ist, ist das gemeinsame Frühstück sehr kommunikativ. Vom deutschen Lamborghini-Manager aus Sant‘ Agata bis zur Mutti mit Tochter aus dem mittleren Westen der USA, die zum ersten Mal in NYC sind, ist mit allem zu rechnen. Wer am Frühstückstisch seine Ruhe haben will, nimmt am besten seine New York Times von gestern mit und liest sie nochmal.
Wir hatten die Frühstücksfrage bald ganz anders geklärt. Es begann damit, daß wir, durch die Zeitverschiebung plötzlich zu Frühaufstehern geworden (morgens um vier stehst du senkrecht im Bett!), gleich am ersten Tag in New York ausgerechnet nach Coney Island wollen, ans Meer, also genau in die falsche Richtung. Mark fand das really cool, wir wollten aber nur durchschnaufen nach dem Streß der letzten Monate und auch der Anreise, bevor wir uns in den Moloch wagten.
Wir fahren also mit dem train, wie die U-Bahn in New York heißt, Richtung Südosten, wo der train ziemlich bald zur Hochbahn wird, was in allen Städten immer ein besonderes Erlebnis ist. 20 Minuten suburbia von oben, dann blitzt zwischen öden Mietskasernen das berühmte Riesenrad auf: Coney Island Beach.
Den breiten menschenleeren Strand entlang, den Steg hinaus, auf dem zwei japanische Mädchen damit beschäftigt sind, ein Foto aus einem Modemagazin, das sie in der Hand halten, mit dem iPhone nachzuschießen.
Weiter Richtung Westen, an einer in die Jahre gekommenen gated community vorbei, die ihre eher bescheidenen Hütten durch drohende keep out-Schilder und einen vergammelten Zaun vor uns schützt.
Es ist sonnig und ruhig und sehr erholsam. Ich mache Fotos, diesmal analoge mit der Pentax 6×7, erstmals seit vielen Jahren wieder. Sehr dosiert, denn nach 10mal auslösen ist der Rollfilm voll. Ganz Coney Island scheint widerzuhallen vom fantastischen Geräusch des rauschenden Verschlusses und schlagenden Spiegels: tschlockkka-schlumm-tschlackkk. Hoffentlich stimmt die Belichtung.

Coney Island Beach
Coney Island Beach, gesehen von einer 6×7 Pentax und einem uralten Kodak-Negativfilm

Hinter dem Boulevard laufen wir zurück und landeten in Brighton Beach, am östlichen Ende des Strands. Klingt britisch, ist aber russisch, und zwar so sehr, daß dort kein Mensch englisch kann, und wenn doch, dann auf dem Niveau eines Busfahrers in einem Moskauer Vorort.
An den Kiosken gibt es nur russische Zeitungen und Magazine, dafür aber alle, und in den Läden alles, was der Mensch in der Diaspora braucht. Vor allem: EUROPÄISCHES Essen!
Es gibt griechischen Joghurt, italienische Wurst, französische Pasteten, türkische Oliven und schwäbische Nudeln. Von jenseits des Atlantik betrachtet scheint die Distanz zwischen Stuttgart und St. Petersburg marginal zu sein.
Einem Basar gleich reihen sich die Lebensmittelläden unter der auch hier als highline hinwegdonnernden U-Bahn aneinander. Das Durchschnittsalter ist hoch, die Damen unglaublich russisch in Ihren Gesichtszügen, die Mäntel in die Jahre gekommen, aber fein.
Dieses Rußland hat nichts zu tun mit jenen Russen, die seit der Wende an allen erdenklichen Destinationen in Scharen auftauchen, die Immobilienpreise versauen und sich beschissen benehmen.
Wir sind in der Diaspora des russischen Zarenreichs um die vorletzte Jahrhundertwende, in den sorgsam konservierten Überresten der feinen Sankt Petersburger Bourgeoisie, der ein Serge Prokofjew entstammte oder ein Alexander Rodtschenko.
Hier, am östlichsten Ende dieses russisch-europäischen Boulevards, der uns auf eine perverse Weise vertraut vorkam und die ketzerische Idee aufkeimen ließ, ob es doch so etwas geben könnte wie eine europäische Identität, hier also entdeckten wir die Quelle unseres Frühstücksglücks: eine russische Bäckerei und Konditorei mit dem schönen russischen Namen Brioche.
Wie alle Backstuben riecht man auch das Brioche schon auf dem Trottoir, nur daß der Duft des Brioche uns signalisierte, daß hier mit Hefe, Weizen und Butter und sonst nichts gebacken wird.
Praktischerweise verzichtet man in diesem Laden gleich darauf, die Teigtaschen und Hörnchen aus den mannshohen Alublech-Einschub-Rollwägen in Regale zu legen. Diese Wägen, die eigentlich in die Backstube gehören, dominieren den Verkaufsraum.
Jeder bedient sich selbst sich an der Quelle und füllt seine Plastiktüten, die schließlich auf einer Waage landen. Wir machen es genauso, füllen zwei Tütchen mit diversen uns anlachenden Teilchen und achten brav darauf, daß in jeder Tüte nur Produkte von gleichem Pfundpreis landen.
Ich entscheide mich unter anderem für eine Teigtasche, die sich als gefüllt mit Kirschmarmelade, und zwar richtiger, fruchtig süß-saurer Kirschmarmelade, herausstellt. Judith weiß: Russen lieben Kirschmarmelade.
Dazu gießen wir uns Kaffee ein, der neben dem Eingang gleich sechsfach, frisch gebrüht, wie zu lesen ist, auf diversen Wärmeplatten steht: turkish, arabian, vanilla und noch andere bei Russen offensichtlich beliebte Kaffeevarianten oder Aromen.
Auch hier sind wir wieder erstaunt, wie gut der Kaffee ist, in unserem Fall der türkische. Man steht rum und plaudert, guckt, und geht den Konditoren, die Ihre leeren Wägen abholen und frisch gefüllte bringen, im Wege um.
So werden wir Zeuge einer Diskussion zwischen einer russischen Dame und einem älteren Bäcker, der der Chef sein könnte. Erst redet sie russisch, dann scheint Sie zu beschließen, daß er sie nicht versteht und fällt, dankenswerterweise, ins englische: Too biiig, too biiig, and thiiis: too small!
Sie zeigt auf zwei dieser wunderbaren Kirschtaschen, deren eine ihr zu lang, die andere zu kurz geraten erscheint, und macht eine Handbewegung, die andeutet: genau dazwischen läge die Wahrheit. Auf jeden Fall im Millimeterbereich.
Herr Brioche ist nicht besonders beeindruckt, was uns nicht wundert, denn wahrscheinlich kommt die Alte jeden Tag aufs Neue mit genau so einer Beschwerde.
Den Bäckern, genauer gesagt den meist weiblichen Verkäuferinnen hinterm Tresen, kommt überall auf der Welt eine wichtige soziale Funktion zu: Watschendepp zu sein für ein Ritual des Ansagens und Ablästerns, das umso mehr Spaß macht, als man es jeden Morgen wiederholen kann.
Wir kennen das. Bei uns in Arnstadt geht das so: wir haben einen Bäcker, der macht ein Sauerteigbrot aus 100% Hochlandroggen, das ohne Vergleich ist. Münchner Pfisterbrot ist im Vergleich dazu langweilig. Dieses Brot ist schlechterdings das ultimative Brot in der Kategorie Deutsches Schwarzbrot.
Mit diesem Brot, was Bernd, unser Bäcker, allen Interessierten immer wieder gerne erklärt, hat es allerdings folgende Bewandtnis:
Erstens: durch den Verzicht auf zusätzliche Triebmittel werden diese Brote nicht rund wie ein gewickeltes Baby, sondern bleiben relativ flach, was unserer Ansicht nach dem Geschmack eher äußerlich ist, und zweitens: diese Brote müssen bis an die Grenze der Backzeit im Ofen bleiben, damit sie gar werden und die Kruste karamellisiert. Sie sind unter ihrem weißen Mehlstaubkleidchen echtes Schwarzbrot.
Seit hundert Jahren backt die Familie Nagel dieses Brot, durch alle Diktaturen hindurch in den Turbokapitalismus hinein, in traditioneller Weise. Seit hundert Jahren stehen jeden Morgen die Arnstädter beim Bäcker Nagel Schlange, um dieses Brot zu kaufen und – ein Ritual zu begehen: das Schon-wieder-so-flach-Ritual, oder das Schon-wieder-so-dunkel-Ritual, oder beide zugleich.
Am Anfang haben wir im vollen Laden laut und stolz ein möglichst flaches und dunkles Brot bestellt, aber diese Versuche einer Provokation verpufften stets ohne Wirkung.
Die Frauen, die unter den Blicken der kritischen Kundschaft manchmal mehrere Brote aus den Regalen nehmen und von allen Seiten begutachten lassen müssen, bis sie endlich ein gnädiges na gut erhalten, wissen längst, daß dieses unwürdige Spektakel nichts mit dem Brot zu tun hat, das sie verkaufen. Sie tragen es mit Fassung.
Nicht viel anders, so scheint es, geht es zu im Brioche, Brighton Beach Avenue, Brooklyn. Wir haben inzwischen unseren Kaffee ausgetrunken und beschließen, hier Proviant einzukaufen, vor allem fürs Frühstück.

Brioches by Brioche / Brighton Beach, Brooklyn
Brioches by Brioche / Brighton Beach, Brooklyn

Zwanzig Teile aller Art füllen schließlich zwei bags, wir zahlen 16 Dollar, inkl. Kaffee. Wir werden damit einige Tage, zusammen mit Marks Coffee-Pad-Kaffee und seiner Frischmilch in Pappbechern, hochzufrieden unser Frühstück im Bett bestreiten.
Unseren ersten Tag in New York City verbrachten wir also am Meer, herumstreifend mit einem Bedürfnis nach Ruhe und Fernsicht. Dabei entdeckten wir am westlichsten Ende von Coney Island den Blick auf die riesige und elegante Verrazzano-Brigde, die Brooklyn mit Staten Island verbindet und Schiffe scheinbar jeder Größe unter sich hindurchläßt.
Noch haben wir keinen Wolkenkratzer und keine der drei berühmten Brücken zwischen Manhattan und Brooklyn gesehen. Unser Plan steht fest: morgen würden wir in Richtung Manhattan gehen, und zwar zu Fuß.

III_Red Hook

Prospect Park ist der größte Park Brooklyns, gestaltet von denselben Architekten, die zuvor den Central Park geplant hatten. Die Brooklyner sind davon überzeugt, daß Calvert Vaux und Frederick Law Olmsted in Manhattan noch geübt, in Brooklyn jedoch ihr Meisterstück vollbracht haben. Der Manhattaner hat dazu keine Meinung, da er Prospect Park nicht kennt.
Prospect Park ist geprägt durch einen großen See im Süden, leicht hügeliges Gelände mit schönen steinernen Brücken und mit Wegen, die, wie organisch gewachsen, über diese hinweg und unter diesen hindurchführen, mit Wiesen, Wäldchen und alten Bäumen. Der Park ist immerhin 150 Jahre alt. Er könnte perfekt sein, gäbe es nicht ein Detail, das irritiert: eine breit asphaltierte Ringstraße mitten drin. Zur Entlastung der Hauptverkehrsstraßen während des Berufsverkehrs.
Tage später, im Central Park, stellen wir fest, daß sich auch hier unter der Woche die Jogger den Park mit reichlich Autos teilen. Als wir den Park von der East Side zur West Side in der Abenddämmerung durchquerten, vom Metropolitan Museum of Art, das wir vergeblich ansteuerten (Montag! Inzwischen allerdings auch an diesem Wochentag geöffnet), auf der Suche nach der Metropolitan Opera, wo wir unsere seit Wochen online-vorbestellten Tickets abholen wollten, fand die Laufrunde mancher Upper East Side-Bewohner auf autobefahrenen Straßen statt.
Ruhige und lauschige Ecken und Wege finden sich dennoch. Immer umgeben von einer mindestens 20geschossigen Skyline, was insbesondere in einer Winternacht eine irrwitzige Mischung aus Urbanität und Einsamkeit erzeugt. Es war einer jener Momente in New York, in dem ich mir dachte: das, in der Tat, sollte man gesehen haben.
Auf einer hölzernen Brücke mache ich ein Foto: leuchtende New-York-City-Skyline spiegelt sich in winterlich-dunklem Central-Park-See. Ich kann nicht widerstehen. Die einzigen, die mich sehen, sind zwei ebenfalls deutsche Touristen, die natürlich dasselbe Foto machen. Schweigend gehen wir weiter.

Central Park in einer warmen Winternacht
Central Park in einer warmen Winternacht. Du bist mitten drin und hörst: nichts

Der Tag, an dem wir durch Prospect Park liefen, in langsamer Näherung an Downtown Manhattan, ist allerdings ein Samstag, ein sonniger und warmer zumal. Die Parktore sind für den Autoverkehr geschlossen. Die bereits erwähnte Ringstraße unfallfrei zu queren, erfordert dennoch Vorsicht. Tausende Radler, Skater und Jogger sausen, rollen oder hoppeln entgegen dem Uhrzeigersinn die gut fünf Kilometer lange Straße im Kreise.
Die Rennradler auf nagelneuen Cannondales oder Treks sind flott unterwegs. Leicht welliges Gelände, Traumwetter und der Tribüneneffekt, das setzt Kräfte frei. Gern würde ich mitfahren. Auf die Idee, Anfang Januar Fahrradschuhe, Pedale, Helm und Hose mit nach Brooklyn zu nehmen und mir hier wie auf Mallorca ein Fahrrad zu leihen, bin ich seltsamerweise nicht gekommen.
Jetzt steh ich am Rande dieser wunderbaren Arena der Eitelkeiten und beschließe, meinen Neid zu mißachten und mich darauf zu besinnen, warum ich hier bin.
Wir durchqueren Park Slope, das so heißt, weil das Gelände die zwei Meilen vom East River bis zum Park stetig ansteigt. Wir laufen also abwärts, durch ein Viertel, das ziemlich bunt ist in Sachen Hautfarbe, Alter und Familienstand, wenngleich die whites überwiegen. Hier lebt die intellektuelle Elite Amerikas. Keine Menschen, die von der Idee getrieben sind, das große Geld zu machen, keine Hipster, keine Megareichen. Eher solche, so unser Eindruck, die gut auf den Kick verzichten können, den es einem gibt, wenn man sagen kann: I live Downtown Manhattan. Nicht superreich, aber gut situiert mit einem Brooklyner Reihenhäuschen von wie gesagt rund drei Mio. Dollar und ziemlich normalen Autos.
Die allerdings wirken in Amerika irgendwie alle etwas größer als daheim, wie aufgeblasen, auch wenn es dieselben Marken und Modelle sind. Ich bekomme nicht heraus, woran es liegt, die etwas verlängerten Stoßstangen allein können es nicht sein. Oder doch?
Die streets sind reine Wohnstraßen, quer dazu die avenues mit Geschäften, Kneipen, Cafés und Durchgangsverkehr, beides streng getrennt. Es ist Samstag, die Sonne scheint, und es ist viel los auf den avenues.
Auf der siebten stoßen wir auf einen Flohmarkt von bescheidenen Dimensionen und noch bescheidenerem Angebot. Ein kurzer Durchmarsch macht klar: alles eher Schrott. Wir besuchen unseren ersten flee market in einem der besten Viertel von New York und stellen fest: alles Schrott. Unser Arnstädter Provinzflohmarkt, der einmal im Monat auf dem Markt stattfindet, kann locker mithalten. Wir sind hochzufrieden mit diesem Befund.
Während Judith noch nach versteckten Perlen sucht unter all dem Krempel, setze ich mich auf eine Bank und beobachte die Passanten. Innerhalb weniger Minuten läuft jede Ethnie dieses Globusses an mir vorbei, jedes Alter, jede Familienform und jede Modeanschauung.
Nie zuvor habe ich so deutlich bemerkt, was ein Mensch allein durch sein Äußeres, seinen Blick oder seinen Gang über sich mitteilt. Ich bin auf einem fremden Kontinent, in einer fremden Welt. Das schärft den Blick, denn nichts ist hier für mich gewöhnlich.
Ich halte meine Canon-DSLR, wie die Spiegelreflex heute heißt, zwischen den Beinen und ziehe mit den Passanten mit, ohne sie anzuschauen. Clackclackclackclack. Es entsteht eine nette Portraitserie eines sonnigen Samstags auf der 7th in Park Slope, alle von unten im Profil und unterwegs. Niemand merkt, daß er fotografiert wird.

Park Slope, Brooklyn

Bis auf einen: an der Seite einer hübschen Kruschelhaar-Angela Davis, mit blauem Barrett auf dem Kopf, Dschingis-Khan-Schnauzer und einer Hautfarbe wie Obama bemerkt er sofort, daß hier ein Paparazzo auf der Lauer liegt. Wie es sich gehört grinst er freundlich in meine Linse.
Wir verlassen Park Slope Richtung Westen und East River, queren den Gowanus Canal, der uns mit seinen Brachen, Lagerhallen und Drehbrücken schon ein wenig einstimmt auf das, was wir eigentlich suchen, queren den BQE, den Brooklyn Queens Expressway, eine Stadtautobahn, die in den Fünfzigern wie mit dem Lineal gezogen durch Brooklyn gepflügt wurde, und erreichen Red Hook.
Red Hook hatten wir auf der Liste. Das Wort Sehenswürdigkeit führte hier allerdings in die Irre, denn die einzige echte Sehenswürdigkeit von Red Hook ist die Freiheitsstatue im knipsunfreundlichen Abstand von drei Kilometern.
Immer wieder habe ich von diesem Hafenrevier gelesen oder gehört, von diesem Namen, der nach alten Segelschiffen klingt, nach Piraten und Fässern voll Rum. Nach Coney Island besuchen wir also Red Hook.
Um es vorwegzunehmen: Red Hook hat ein Problem, ein infrastrukturelles Problem, und zwar nicht irgendeines, sondern das infrastrukturelle Problem, das man in New York City überhaupt haben kann: no train! Es hält kein Zug in Red Hook! Bis heute nicht und auch nicht in absehbarer Zukunft.
Was das bedeutet, wird uns rasch klar, als wir die Van Brunt Street, die Hauptader von Red Hook, Richtung Süden hinunterlaufen. Wir sind durch eine Zeitschleuse getreten und befinden uns in einem Hafenviertel New Yorks der Zwanziger oder Fünfziger Jahre. Kein Verkehr, Stille. Alte Häuser und verwilderte Brachen.
Lagerhallen links und rechts von Seitenstraßen, die zugleich Sackgassen sind und von ein bis zwei heruntergekommenen Autos beparkt werden. Hier und da ein saniertes Haus oder ein Versuch, eine Kneipe zu eröffnen. Nichts wo wir einkehren wollten. Mir stellen sich die Haare auf. Awesome! Amerika!

Red Hook, Brooklyn
Red Hook, Brooklyn

Der Höhepunkt aber erwartet uns am Ende der Straße, dort, wo man sich dem Wasser nähert, den ehemaligen piers und alten Lagerhallen aus handgeformten und hartgebrannten Ziegelsteinen. Das Gebäude, das sich entlang der offenen Pier hinauszieht, ist in schnörkelloser Schlichtheit gemauert im ungewöhnlichem Verband von je sieben Reihen Läufern auf eine Reihe Binder, die Rundbögen als perfekte Halbkreise in Dreierreihen, darunter handgeschmiedete, doppelflügelige Eisentüren, pechschwarz gestrichen. Geschätztes Baujahr: 1870.
Wir denken an Murano, und tatsächlich blasen sie gleich hinter der ersten Türe, durch die wir eintreten, in traditioneller Weise Glas.
Freundlich weist man uns darauf hin, daß heute keine Führung sei, wir wechseln ein paar Worte und verlassen die kleine Fabrik. Was für ein Ort! Die untergehende Sonne waagerecht im Loft, die Bay of New York vor der Türe und die Freiheitsstatue in erträglichem Abstand am Horizont.
Richtung Süden gehen wir den menschenleeren Quai hinaus auf der Suche nach dem Punkt, an dem es nicht mehr weiter geht: no admittance beyond this point sagt uns ein großes Schild, kurz bevor man ins Wasser fiele.
Eine schwere eiserne Tafel linker Hand an der Fassade des alten Backsteingebäudes zelebriert den Mythos Red Hook: sie erzählt die Geschichte eines sizilianischen Einwanderers, der um 1840 herum hier anlandete und blieb, und der mit seinen Söhnen und Enkeln als Dockarbeiter die Neue Welt mit aufbaute. Leider habe ich mir den Namen nicht notiert und auch kein Foto davon gemacht, und im Netz finde ich keinen Hinweis auf diese Tafel.
Wir drehen uns um und sehen zum erstenmal live die Skyline von Manhattan mit dem Freedom Tower im Bau, der bereits alle ihn umgebenden Gebäude überragt.

Noch einmal fällt uns Venedig ein, diesmal die Giudecca, bevor sie schick wurde, mit ihrem einst so proletarischem Charme und dem fantastischen Blick auf die Skyline von Venedig: die Zattere und den Bacino di San Marco.
Red Hook aber ist noch nicht schick, und so mancher Spekulant soll sich hier schon verkalkuliert haben. Im Januar 2012 jedenfalls liegt das ehemalige Hafenquartier im winterlichen Tiefschlaf, mit Industriedenkmalen, die, so scheint es, zwar alle gut konserviert sind, aber überwiegend noch neuer Nutzungen harren.
Ich denke: sollte ich jemals in New York leben, dann hier. Ich sage: Gut daß wir unseren Platz gefunden haben.
Es ist inzwischen zu spät, um noch nach Manhattan zu laufen. Wir streunen in der Dämmerung durch die Seitenstraßen Red Hooks zurück in die Grenzzone urbaner Normalität, bis wir in einer Tapas-Bar anlanden.
Junge Leute verkaufen lecker gefüllte Teigrollen und mexikanisches Bier über den Tresen, wir verdrücken doppelte Portionen und dürfen sitzenbleiben so lange wir wollen. Heute haben wir Manhattan schon mal gesehen: über den East River hinweg.

Tapas und Mexican Beer at Red Hook
Tapas und Mexican Beer at Red Hook

IV_The Train

Ein Erlebnis eigener Art ist die New Yorker U-Bahn. Die Bahnhöfe, die Züge, das Netz, die Verkehrs­dichte, das Ticket-System: alles ist geprägt von einer radikal auf das Notwendige reduzierten Zweck­mäßigkeit fern jedem Bedürfnis nach Repräsentation.
Es beginnt mit den Zügen, deren Außenhülle aus gewelltem Edelstahl besteht und die somit weder Farbfassung noch im eigentlichen Sinne ein „Design“ kennen. Unkaputtbar, graphity proof, seit Jahrzehn­ten unverändert und gut anzusehen.
Die Triebwägen der Züge haben kein stromlinien­förmiges Profil, sondern wirken von vorne wie mit dem Brotmesser durchschnittene, mit einer Windschutzscheibe und drei Lampen versehene Wagons. Die Türen sind einfache Schiebetüren, die beim Öffnen hinter der Außenhaut verschwinden. So springt die Edelstahl-Hülle bei geschlossenem Zustand der Türen wenig elegant 10 cm zurück.
Die Sitze sind Hartschalen, ohne irgendwelche Polster, die Opfer vandalistischer Attacken werden könnten. Das Fahrwerk rumpelt und macht einen Höllenlärm, es quietscht infernalisch bei jeder Kurve oder Einfahrt in einen Bahnhof, die Schienen sind nicht verschweißt: tocktock, tocktock – tocktock, tocktock. So donnern die Räder der Drehgestelle im Rhythmus der Achsabstände über die Schienen­anschlüsse. Wunderbar!
Dann die Bahnhöfe. Neunzehntes Jahrhundert mit heiß zu Doppel-T-Trägern zusammengenieteten Winkeleisen als stützende Säulen und Träger. Bis zu vier Zentimeter starker Stahl, der unter vielen Schichten grüner oder schwarzer Ölfarbe langsam vor sich hinrosten darf. Flickwerk überall, auch hier wird nur repariert, was unabwendbar ist. Unglaublich viel Dreck und Laisser-faire, nicht nur in den Stationen der Außenbezirke.

Train station
NYC train stations: jede ihre eigene unfreiwillige Galerie zeitgenössischer Kunst

Am besten aber ist es, wenn es regnet. Das Wasser dringt überall ein, es läuft die Doppel-T-Träger hinunter, tropft von den Decken, nährt Rost und Moder und bildet Pfützen und Seen. Bis der massive Stahl statisch bedenklich wird, vergehen dennoch halbe Jahrhunderte. Erst dann wird die mta, die Metropolitan Transportation Authority, aktiv.
So waren wir Anfang Januar 2012 Zeuge eines Spektakels, das ganz New York City bewegte: Erstmals wurde eine Linie gesperrt. Zwei Tage lang hieß es: no train on this line!
Das hatte es seit der Fahrt der ersten U-Bahn in New York City im Jahre 1904 noch nicht gegeben. Der Sanierungsbedarf war so umfassend, daß es nicht – wie bislang – genügte, lediglich nachts ein paar Stunden die Verkehrsströme umzuleiten.
In einem vorbildlichen kommunikativen Kraftakt vermittelte die train authority in Englisch und in Spanisch, wo, wann, warum und wie lange es stockte, und wie man dennoch an sein Ziel gelangt.
Bei Normalbetrieb fahren die Züge der U-Bahn fast Stoßstange an Stoßstange, nur nachts kann es passieren, daß man wirklich wartet. Dann aber ist der Bahnsteig voll, die Stimmung gut und irgendeiner musiziert immer. Kein einziges Mal fühlten wir uns in Zügen oder auf Bahnsteigen in Manhattan oder Brooklyn unwohl oder bedroht.
Ein normales Wochenticket kostet – Anfang 2012 –27 $. Ein elektronisch gesteuertes Zugangssystem läßt den Gedanken an Schwarzfahren übrigens gar nicht erst aufkommen – es sei denn man hat die Nerven, im sicherheitshysterischen Amerika videoüberwacht über Absperranlagen hinweg­zuklettern.
Die New Yorker U-Bahn ist das Fortbewegungsmittel der Stadt, insbesondere über größere Distanzen. Es ist ein besonderer Anblick, morgens oder am frühen Abend an den Übergangs-Plattformen der großen Stationen zu stehen, an denen sich die wichtigsten Linien kreuzen, und den sich dort ebenfalls kreuzenden, unentwegt fließenden Menschen­strömen zuzusehen.
Unübersehbar ist ganz New York hier unterwegs, schnöselige Banker mit zu kurzen Hosen, elegante Ladies und feine Herren und wer sonst noch so ausschaut, als könne er genauso gut das Taxi nehmen. Darauf sind die New Yorker stolz: Wie auf dem Münchner Oktoberfest soll es auch hier keine Klassenschranken geben.
Im weiteren kann unbestreitbar über die New Yorker U-Bahn festgehalten werden: nirgendwo sonst bekommt man so viele umwerfend schöne und attraktive Frauen jeden Alters und Kulturkreises zu sehen, wie in den zentralen Bahnhöfen zur rush hour.
Töchter vermögender Familien, Frauen mit gutbezahlten Jobs, erfolgreiche Künstlerinnen und Künstlergattinnen, Musikerinnen und Praktikantinnen erfolgreicher Galerien. Die Klamotten teuer, ohne das Preisschild vor sich her zu tragen. Der Stil individuell, aber nicht exaltiert. Die Frisuren sexy und natürlich.
Sie haben nicht nur Geld in New York, sie haben auch Geschmack. Bis in den Untergrund sind in New York Reichtum und Schönheit allgegenwärtig. Du brauchst ein starkes Selbstbewußtsein, wenn du diese Stadt besuchst, auch wenn die Bahnhöfe noch so schäbig sind. Denn wo du herkommst, da ist Peripherie.

V_Manhattan

Wir betraten Manhattan zu Fuß über die Brooklyn Bridge, die der aus Mühlhausen / Thüringen stammende Ingenieur Johann Röbling, seine Frau und sein Sohn in 14 Jahre währender verzehrender Anstrengung errichteten, bis sie 1883 endlich eingeweiht wurde.
In Thüringen, wo wir heute zuhause sind, ist man so stolz auf Herrn Röblings Herkunft, daß, wenn man für Thüringen wirbt, tatsächlich mit der Brooklyn Bridge wirbt. Nur der geniale Songwriter Rainald Grebe war noch besser, als er 2007 textete: Thüühüringen…, und David Bowie ist auch schon mal drübergeflogen! Genial! Auf youtube immer noch zu sehen!
Brooklyn Bridge ist nicht nur beeindruckend ausladend und mächtig wie alle New Yorker Brücken, die auf beiden Seiten des East Rivers weit drinnen im jeweiligen Stadtteil Anlauf nehmen und sich bis zur Uferzone bereits auf eine Höhe von 25m emporgeschwungen haben. Sie ist auch schön.
Die beiden riesigen Pilonen, die im Flußbett stehen und Fahrbahn und Stahlseile tragen, sind im Gegensatz zu den beiden später entstandenen Schwesterbrücken Manhattan Bridge und Williamsburg Bridge, die ganz aus Stahl gefertigt sind, aus Sandstein, ebenso die beiden mächtigen Auffahrtsrampen.
Die wie Fenster einer gotischen Kathedrale wirkenden spitzbogigen Aussparungen der Tragepfeiler verweisen auf die europäische Baugeschichte, der stählerne Korpus und die moderne Stahlseil-Hängetechnik auf die Neue Zeit.
Während die Statue of Liberty für den politischen Führungsanspruch der USA steht und das Empire State Building als einst höchstes Gebäude der Welt für den Anspruch ihrer technischen Überlegenheit, versinnbildlicht diese Brücke durch den erstmaligen Anschluß von Brooklyn und Queens an Manhattan die Stadt selbst. Brooklyn Bridge ist das Herz der Stadt New York City.
Fußgänger überqueren die Brücke eine Etage über den Autos, deren Fahrtgeräusche durch den Resonanzboden des stählernen Korpus der Brücke infernalisch verstärkt werden. Deshalb hält sich trotz der phantastischen Ausblicke nach Norden auf die jüngere, noch größere und noch lautere Manhattan-Bridge, nach Westen auf die Skyline Manhattans und nach Süden auf die Bay und die Freiheitsstatue die Aufenthaltsqualität in Grenzen.
Täglich laufen und radeln Tausende über die Brooklyn Bridge. Nirgendwo bist du Manhattan so nahe und bewahrst dennoch die Distanz wie auf den Aussichtsplattformen der beiden steinernen Pilonen der Brooklyn Bridge.
Dann, beim Runtergehen, hört die Skyline langsam auf Skyline zu sein und beginnt, Architektur zu werden. Unser Eindruck: Scheißarchitektur.
Häßliche Türme, deren Formgebung vor allem durch das Bedürfnis geprägt ist, sich vom Nachbar­gebäude zu unterscheiden, ohne auf diese in Form, Farbe oder Material in irgendeiner Form Bezug zu nehmen. Anything goes architecture der jüngeren und jüngsten Baugeschichte. Vogelkot-Architektur nennt der Kopenhagener Städteplaner Jan Gels das in einem Interview in brand eins. Weil sie von irgendwo runtergefallen ist und Scheisse ausschaut. Genau!
Abweisend und spiegelnd, Macht und Pracht ausstrahlend, belanglos und austauschbar: so schickt der Financial District im äußersten Süden Manhattans, der hier beginnt, offenbar seine Duftmarken voraus.
Was für ein Unterschied zu Gebäuden wie dem Empire State Building oder dem Chrysler-Building! Was für ein Unterschied auch zu den zerstörten Twin Towers mit ihrer schlichten Eleganz. Wir beschließen, nach Norden abzubiegen in Richtung Chinatown und Lower East Side.
Später, auf der stillgelegten und zu einem wunderbaren Fußgängerparcours umgebauten Highline im Westen der Insel sehe ich ein anderes New York.
Manhattan von hinten, viel alte Bausubstanz, Wohngebiete und Gewerbezonen. Vor allem: Lofts. Gebäude aus den Zwanzigern oder Fünfzigern, bisweilen gigantische Kuben, bis zu unglaublichen 18 Industrieetagen hoch.
Hier ist New York begeisternd schön. Das Material Backstein, Naturstein oder Beton, mal gestrichen, mal roh. Große, durch stählerne Streben regelmäßig untergliederte Fenster belichten tiefe Räume und geben Einblicke in Galerien und Büros. Stark grafisch wirkende Fassaden, abgesehen von Gesimsen oder Mauersprüngen wenig Schmuckwerk. Neue Sachlichkeit auf amerikanisch.

Zweckmäßig, roh, faszinierend: Lots in Manhattan
Zweckmäßig, roh, faszinierend: Lofts in Manhattan

Ich sehe Gebäude von zeitloser Einfachheit und Schönheit. Die Substanz der Häuser, das Mauerwerk, ist nicht verkleidet und stets sichtbar, inklusive seiner Unregelmäßigkeiten und Verwitterungen, späterer Eingriffe und Patina.
Diese Häuser entstanden als es noch keine Paneele oder Systemfassaden gab. Die Architektur bewegte sich noch, wie seit Jahrtausenden, innerhalb eines konstruktiven und gestalterischen Kanons. So entstanden fast zwangsläufig Gebäude, die nicht nur schön sind, sondern auch ein zueinander paßten. Tempi passati.
Diese Gebäude, die große Teile New Yorks bis heute prägen, sind zeitlos zweckmäßig. Deswegen werden sie auch nicht abgerissen, sondern fortwährend umgenutzt, wie die vielen Sanierungs-Baustellen in Manhattans beweisen.
Denn ihr Bauprinzip ist das eines universell nutzbaren Rahmenbaus: massiv gemauerte Pfeiler (teilweise von beeindruckenden Dimensionen), deckentragende Doppel-T-Stahlprofile (im Erdgeschoß bei einigen Gebäuden bis zu sechs, sieben Meter hoch schwebend) und zusätzliche freistehende stützende Säulen aus Gußeisen bilden eine simple würfelförmige Statik und Rohstruktur (analog zum rechtwinkligen Straßenplan Man­hattans), die für jeden Zweck nutzbar ist und eine Umrüstung (um nicht Sanierung zu sagen, denn saniert wird hier nichts) profitabler macht als Abriß und Neubau.
Fenster, Schaufenster, Türen, Raumaufteilung, Treppenhäuser, Raumgestaltung etc. sind relativ frei gestaltbar. Die Substanz, das tragende Mauerwerk mit seiner individuellen Gestaltung, seinen Oberflächen und Farben aber bleibt. Das Gebäude bleibt das alte. This is the practical functionalism of American industrial architecture (aus einem Blog).
So schaffen es die Amerikaner, ihre jüngere historische Bausubstanz zu erhalten ohne sich mit dem europäischen Gegensatz von modernen Nutzungsansprüchen und Denkmalpflege befassen zu müssen. Natürlich haben sie es auch leichter, da sie es kaum mit Fachwerk oder doppelschaligem Naturstein-Mauerwerk aus dem 16. Jahrhundert zu tun haben.
Es verhält sich mit den Gewerbebauten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie mit den brownstones in Park Slope. Ich habe Bilder aus Chicago und Detroit gesehen, die diesen Eindruck bestätigen. Natürlich gleicht kein Gebäude dem anderen, aber allein schon die Verwendung des gleichen Steins und gewisser Grundraster der Fassadengestaltung stiftet die Identität, die einer Stadt erst ein Gesicht gibt. In Deutschland kann meines Erachtens einzig Hamburg für sich beanspruchen, auch zeitgenössische Architektur in diesem unabwendbaren Sinne diszipliniert zu haben.
Ein Loft in Greenwich zu bewohnen oder zu bespielen, in einem solchen knapp hundertjährigem Gebäude, gar noch mit Blick auf den Hudson River oder das Empire State Building, das dürfte nicht zu toppen sein.
Das wissen vor allem die Galeristen in New York. Davon soll es alleine in Manhattan so viele geben wie in ganz Deutschland. Auf jeden Fall machen einige wenige davon alleine soviel Umsatz wie wahrscheinlich alle deutschen Galeristen zusammen.
Viele davon konzentrieren sich in jener Zone rund um die highline, in Chelsea, allein hier verzeichnen die Galerieführer mehrere hundert Kunstgalerien, was mich auf die Idee brachte, an einem Sonntag durch das Viertel zu streifen mit der Absicht, mir einen Eindruck zu verschaffen, wo ich eventuell fündig werden könnte auf der Suche nach Malerei oder Fotografie, die mich interessiert.
Das war noch, bevor ich mich mit den architektonischen Besonderheiten New Yorks vertraut gemacht hatte.
Ich hatte nämlich die sehr europäische Vorstellung von einer Kunstgalerie, die sich in einem alten Laden im Erdgeschoß eingerichtet hat, mit großen Schaufenstern und Leuchtstoffröhren, die auch des nachts und sonntags leuchten, so daß man sich schon mal unverbindlich die Nase platt drücken kann. A là Auguststraße in Berlin zum Beispiel.
Daraus wurde nichts. Die gesamte Chelsea-Galeristenszene scheint ein paar dieser gigantischen Loftgebäude zu belegen, wo du erstmal an einem Concierge vorbei mußt (woran ich sonntags natürlich scheiterte, sofern ich überhaupt ein Gebäude betreten konnte), dann einen Lift besteigen und schließlich durch schwere Stahltüren in exklusive Kunstverkaufsräume treten darfst, nicht wissend, welcher Schund und Kitsch und welche Sorte von ich-glaube-nicht-daß-Sie-sich-das-hier-leisten-können-Blick dich hier erwartet. An Kaufen war ja sowieso nicht zu denken.

Irgendwo hier müssen sie sein, die legendären New Yorker Galerien
Chelsea, von der Highline: Irgendwo hier müssen sie sein, die legendären New Yorker Galerien

Das Projekt, sich in New York den geballten Spirit internationaler Kunstelite reinzuziehen, war somit gescheitert, bevor es begonnen hatte. Dennoch hatten wir ein ganz spezielles Vernissage-Erlebnis. Wir waren Gast auf einem reception opening, zwar nicht in Chelsea, aber in Soho.

VI_Communities

Dazu kam es wie folgt: ich googelte den Künstler Marc Lüders, dessen kleine übermalte Fotografie in der bereits erwähnten Ausstellung der New York Public Library es mir angetan hatte, und stellte fest, daß, welch Zufall, wenige Tage später in einer Galerie in Manhattan eine Ausstellung mit seinen Arbeiten eröffnet wurde. Die Galerie nannte sich Pablos Birthday. Wir beschlossen hinzugehen.
Wären wir Gast einer Ausstellungseröffnung in Deutschland gewesen, wir hätten die Bilder angesehen, vermutlich ein Glas Rotwein getrunken, vielleicht ein paar Worte mit dem Galeristen gewechselt und wären nach spätestens eine Stunde wieder auf der Straße gewesen.
Vermutlich wäre es auch so gewesen, wenn unser Galerist in 526 Canal Street Amerikaner gewesen wäre. Es verhielt sich jedoch so, daß nicht nur der Künstler, sondern auch sein Galerist aus Deutsch­land stammte. Zufall Nummer zwei. Oder auch kein Zufall, je nachdem wie man es betrachtet.
Denn dieser Zufall erleichterte nicht nur die Kommunikation, er führte dazu, daß wir mit vollkommen ungewohnter Selbstverständlichkeit in eine Deutsch-New Yorker Community aufgenommen wurden, als gehörten wir schon immer dazu.
Und in der Tat, das taten wir, durch unserer Herkunft allein. Wir erlebten unser erstes Beispiel sozialer Segregation in Amerika: ein deutscher Galerist stellt einen deutschen Künstler aus und zur Ausstellungs­eröffnung kommen überwiegend Leute – aus Deutschland.
Ich dachte immer, es gibt nur einen Grund, auf eine Vernissage zu gehen: sehen und gesehen werden (wer sich für die Kunst interessiert, kommt besser an einem anderen Tag). In New York an diesem Abend aber war es anders.
Die Menschen, die wir in dieser Galerie kennen­lernten (und selbstverständlich alle sofort duzten), lebten erfolgreich in der amerikanischen Gesell­schaft dieser Stadt. Sie kamen nicht, um Kontakte zu knüpfen oder interessante Leute kennenzulernen, sondern um unter Ihresgleichen zu sein. Ihre Sprache zu sprechen, ihre Witze zu machen und Neuigkeiten auszutauschen.
Wir waren in einer Art Familientreffen gelandet und wurden sofort adoptiert.
Arne, der Galerist, teilte uns mit, daß es für ihn schwierig sei, amerikanische Künstler zu gewinnen, da diese amerikanische Galeristen bevorzugten. Und wir erfuhren, daß der Witz seiner Galerie vor allem seine Adresse sei, beziehungsweise der Adelsschlag, den es für jeden Künstler darstellt, von einer New Yorker Galerie im Stadtteil Soho repräsentiert zu werden. So macht er sein größtes Geschäft mit? Deutschland natürlich!
Nach zwei Stunden und einigen Gläsern Rotwein hatten wir so ein Dutzend Freunde und kannten jede Vita. Als die ganze Clique schließlich zum Dinner in eine Kneipe umzog, nahm man uns kurzerhand mit.
Der Umzug allein war großes Kino: raus auf die Straße, eine Hand hoch, die andere in den Mund, rein ins Yellow Cab, um drei blocks herum, fünf Dollar zahlen und wieder raus aus dem Auto.
In der Kneipe namens King, einer Mischung aus Bar und Restaurant, die einer unserer neuen Freunde soeben eröffnet hatte (was alleine uns einen Tisch sicherte), kam man sich noch näher, und wir erfuhren, mit welchen Jobs junge Deutsche in NYC die geschätzten 10.000 Dollar im Monat verdienen, die eine Familie in dieser Stadt zum Leben mindestens benötigt.
Da ist zum Beispiel Christoph. Er ist der deutsche Repräsentant eines New Yorker Unternehmens, das darauf spezialisiert ist, Urheberrechtsverletzungen im amerikanischen Fachbuch bzw. in der Fach­presse aufzuspüren. Kunden dieses Unternehmens sind alle namhaften internationalen und deutschen Fachbuchverlage.
Christoph wohnt im feinen Park Slope und hat sich als Wochenend-Idylle irgendwo im Staat New York zwei Container ins Grüne gesetzt. Dort erholt er sich mit seiner Familie von Streß und Lärm in Manhattan. Christoph ist ein ruhiger Typ und weiß, daß er eines Tages wieder nach Deutschland zurückkehren wird.
Oder René, Co-Inhaber des King, in dem wir soeben sitzen und vorsichtshalber nur einen Burger und ein Bier bestellen, was sich am Ende, als die Sammel­rechnung auf dem Tisch landete, als sehr sinnvoll erwies.
Rene ist ziemlich aufgekratzt und scheint sich sicher zu sein, daß sein Konzept aufgeht. Wenn der Laden weiterhin so voll ist wie heute abend, wird er recht behalten. Ein Jahr später allerdings ist die Home­page des King immer noch ein Provisorium, mit einem einzigen düsteren Foto vom Tresen…
Natürlich hatten wir alle auch Emailadressen ausgetauscht und, wieder zuhause, auch einen Gruß mit Dank für den Rotwein und dem Angebot, sich bei Gelegenheit gerne zu revanchieren, zurück über den Atlantik geschickt. Aber da gehörten wir schon nicht mehr zur Familie, und so blieben unsere Emails unbeantwortet.

 VII_Dim Sung

Die ethnische Segregation in New York ist allgegen­wärtig. In den Bussen und der U-Bahn sind Schwarze nur mit Schwarzen zusammen, Hispanics nur mit Hispanics und Weiße natürlich nur mit Weißen. Mark ist auch diesbezüglich eine seltene Ausnahme. Er ist mit Monica verheiratet, einer bildhübschen Frau, deren Hautfarbe dunkel ist. Sie haben drei Kinder im Schulalter.
Eine weitere Ausnahme dieser sozialen Regel betrifft offenbar weiße Männer und asiatische Frauen.
Mehrfach erlebten wir, zuletzt in jenem Restaurant, in das uns unsere deutschen Galerie-Freunde mitführten, wie ein oder zwei junge Weiße sich mächtig ins Zeug legen um eine oder zwei Chinesinnen/Japanerinnen zu beeindrucken. Der Anteil Schwarzer oder Hispanics in jener Location an diesem Abend ging gegen Null.
Wir überlegen: was unterscheidet die Asiatin von der Latina, der schwarzen oder weißen Frau? Vermutlich das Bild, das der weiße Mann sich von ihr macht als zierliche, schwache, schutzbedürftige und somit auch willfährige Frau, was offenbar männliche Hormone freisetzt.
Denn diesem erotischen Ideal genügt die weiße Frau nicht, weil sie tendenziell zu emanzipiert ist, die schwarze Frau nicht, weil sie sich in einem permanenten Kampf um ihre Selbstbehauptung befindet, und die südamerikanische Frau nicht, weil sie sich nur von den stolzesten Männern erobern lassen will. Schlechte Karten für nerds und ähnliche weiße Weicheier. Also hält man sich an die Asiatinnen. Mißverständnisse vorprogrammiert.
Bizarr wird die ethnische Segregation, wenn man sich in die Viertel begibt, die nach ihrer Ethnie benannt sind. Ein Beispiel ist Chinatown. Im Unterschied zu Little Italy, was nur noch ein Las-Vegas-mäßiger Abklatsch seiner selbst ist, wird Chinatown seinem Namen bis heute gerecht.
Es sind nur ein paar Straßen, aber wer durch Chinatown geht, wähnt sich wirklich in China. Am deutlichsten wurde das, als uns unser amerikani­scher Freund Joshua (nicht ohne uns vorzuwarnen, was unser Interesse natürlich erst recht entzündete!) in ein chinesisches Restaurant führte, das wir ohne ihn nie gefunden hätten und das es in dieser Form in ganz Europa nicht gibt. Nicht geben kann.
Es heißt Jing Fong Restaurant und hat die Adresse 20 Elisabeth Street. Es wirbt damit, das größte Dim Sum Restaurant New Yorks im Stile der cantonesischen Küche Hongkongs zu sein. Nachdem wir da waren, würden wir diese Aussage eher als typisches Ostküsten-Understatement werten.
Wer sich nicht auskennt, geht am Eingang des Jing Fong garantiert vorbei. Denn die beiden Glasschiebetüren zwischen den Auslagen zweier Gemüsehändler wirken eher wie der Eingang in ein Bürogebäude oder ein Kaufhaus als in ein Restaurant. Öffentlich ausgehängte Speisekarten oder ähnliches auf ein Restaurant Hinweisendes ist ebenfalls Fehlanzeige.
Einmal durch die Schiebetüren gegangen, befindet man sich in einem kleinen schmucklosen Foyer am Fuße zweier Rolltreppen, deren oberes Ende nicht sichtbar ist.
Drei junge Chinesinnen bewachen mit Walkie-Talkies die Rolltreppen. Diesen teilt unser milieukundiger Freund mit, daß wir einen Tisch bestellt haben, sowie seinen Namen. Nach kurzer Rücksprache via Funk bekommen wir fünf Finger zu sehen. Fünf Minuten, please wait.
Genau fünf Minuten später fahren wir auf einer Rolltreppe, die fast so lang ist wie die Rolltreppe zur U-Bahn am Münchner Marienplatz, in einen Ballsaal, der fast so groß ist wie ein Bierzelt auf dem Oktoberfest.
Ohrenbetäubender Lärm. Der Raum ist durch eine Art Paravent zweigeteilt, die eine Hälfte voll besetzt mit Bingo spielenden Chinesen und dem krakeelendem Bingo-Meister auf einer Bühne am Ende des Raumes, die andere Hälfte ebenso gut gefüllt mit normalen Gästen.
In dem Saal befinden sich knapp eintausend Menschen, fast nur Chinesen, ein paar versprengte unserer Ethnie entdecken wir später nach gründlichem Rundumschauen. Wir werden an unseren Tisch geleitet, ein runder Tisch, den wir mit einigen Chinesen teilen, die keinerlei Notiz von uns nehmen.
Joshua gibt uns zu verstehen, daß wir ihn machen lassen sollen. Was uns nicht schwerfällt, denn selten zuvor waren wir gastronomiemäßig in einer Situation, in der wir so gar nicht mehr wußten, wie es weitergeht.
Denn eines war rasch klar: hier spricht niemand mehr Englisch. Schlimmer noch: niemand hier kann sich vorstellen, daß du nicht weißt, wie ein chinesisches Lokal dieser Art funktioniert. Fragen sinnlos.
Eine Speisekarte oder eine Bestellung gibt es nicht. Dutzende von chinesischen Frauen fahren permanent mit Rollwägelchen, wie man sie aus Krankenhäusern kennt, von Tisch zu Tisch und teilen dem Gast auf kantonesisch mit, was sie anzubieten haben. Glücklicherweise kann man so die Speisen auch vorher anschauen, und hier, erstmalig, erkennt man auch Vertrautes.
Chinesische Garküche vom Feinsten! Gedämpfte Gemüsebällchen im Bastkörbchen mit den verschie­densten Füllungen, zart duftende frische Fleisch­bäll­chen, gefüllte hauchdünne Teigtaschen, und immer wieder irgendwelche Bällchen. Dim Sum Küche.
Das Essen ist delikat und exotisch zugleich. Stets erkennt man, was man ißt, aber stets in ungewohn­ter Zubereitung und Würzung. Das Essen ist leicht, fettarm und bekömmlich. Zu trinken gibt es grünen Tee, für Bier oder Wein scheint es gar kein chinesisches Wort zu geben.
Unsere Tischnachbarn essen teils das Gleiche, teils Anderes, Undefinierbares. Sie kauen auf einer Art Mini-Spareribs herum und spucken die ungenieß­baren Reste auf ihren Teller. Wir lernen, daß es sich um fritierte Hühnerfüße handelt. Die hatte unser Freund wohlweislich durchgewunken.
Während wir so ein gedämpftes Bällchen im Körbchen nach dem anderen verzehren, unseren Tee schlürfen und überlegen, wie lange es wohl noch so weitergeht (ein Anfang und ein Ende im europäischen Sinne scheint diese Küche nicht zu kennen), haben unsere Tischnachbarn gewechselt.
Nun sitzen uns drei sehr junge Chinesen, zwei Männer und eine Frau, gegenüber, die sich zwar in Chinesisch unterhalten und hier offenkundig zuhause sind, deren Outfit, Habitus und Frisur aber erkennen lassen, daß sie sich außerhalb des Jing Fong eher an einer der New Yorker Universitäten, Agenturen oder Kunstgalerien herumtreiben, als in einer Garküche oder im Backoffice eines Import-Export-Limited.
Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildete die Frau, eine hübsche und gebildet wirkende Chinesin mit Kurzhaarschnitt. Kaum saßen sie an unserem Tisch, setzte sich eine Repräsentantin des Restaurants dazu, erkennbar an ihrer Uniform, und unterhielt sich mit der jungen Frau, die zugleich freundlich und reserviert wirkte. Ob sie die Tochter oder Enkelin des Restaurant-Inhabers ist? Ihre souveräne Körper­sprache und Mimik läßt diese Idee aufkommen.
Schließlich zahlen wir den lächerlichen Preis von sechzehn Dollar pro Langnase für ein göttliches Mittagessen und drei Kännchen grünen Tees mitten in New York. Niemand an unserem Tisch oder in diesem Restaurant hat uns drei auch nur eines Blickes gewürdigt. Wir waren Gast in einer Welt, die durch unsere Anwesenheit in ihrer Normalität und Routine nicht im geringsten tangiert zu sein scheint.
Ich denke an die erkenntnistheoretische Idee von der Unmöglichkeit der objektiven Erkenntnis, mit der Begründung, daß der Beobachter das, was er beobachtet, bereits durch den Akt des Beobachtens verändere. In Chinatown halten sie sich schon mal nicht an diese Theorie. Das finde ich sehr gut.

VIII_Metropolitan Museum

Irgendwann im Zuge dieses Protokolls ist ein Geständnis fällig. Wir waren nämlich nicht nur nicht auf dem Empire State Building, auf ground zero oder der Freiheitsstatue, wir haben auch das MoMA oder das Guggenheim Museum, die ich beide eigentlich aufsuchen wollte, verpaßt, um nur die beiden populärsten der New Yorker Museen zu erwähnen, die wir ausließen.
Es war eine Mischung aus keine Lust auf Schlange­stehen, gesalzenen Eintrittspreisen (Pressetickets Fehlanzeige), Abscheu vor mit Reisegruppen über­füllten Ausstellungsräumen, permanentem Zu-spät-Dransein und allgemeiner New-York-Erschöpfung, die uns diese unverzeihliche Abstinenz aufzwang.
Ausgiebig genossen haben wir allerdings zwei andere großartige Museen der Stadt. Von einem hatten wir natürlich gehört, wenngleich wir keine Vorstellung hatten davon, was uns erwarten würde. Das zweite war uns vollkommen unbekannt.
Das erste war das Metropolitan Museum of Art. Joshua meinte, es sei das bedeutendste Museum New Yorks, und wir müßten dort hinein.
Nachdem wir also bereits an einem Montag­nachmittag vergeblich versucht hatten, Eintritt zu erlangen (was uns glücklicherweise nicht gelang, denn der Besuch eines Museums dieser Dimen­sionen ist ein Tagesprogramm), standen wir Tage später morgens um 10 Uhr vor dem gigantischen klassizistischen Gebäude, das sich über 400 Meter die 5th Avenue entlang erstreckt.
Das Metropolitan Museum of Art verfügt über drei Millionen Kunstwerke in seinen Depots aus sämtlichen Abteilungen der Kunstgeschichte der Menschheit und über 180.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche (wikipedia.org). Über das Ranking dieses Museums neben Einrichtungen wie der Eremitage in St. Petersburg (prächtiger) oder dem Louvre in Paris (mehr Besucher) sind im Internet widersprüchliche Angaben zu finden.

Metropolitain Museum of Art
Metropolitain Museum of Art

Tatsächlich zählt die wirklich bespielte Ausstellungs­fläche mehr Quadratmeter als die von Louvre und Eremitage zusammen. Täglich treten rund 20.000 Besucher in eine Empfangshalle, bei der man sich eher im Petersdom wähnt als in einem Ausstellungs­gebäude. Dennoch hat man nie das Gefühl, sich in einem überfüllten Museum zu befinden. Die Menschenmassen verdünnen sich in den endlosen Tiefen des Gebäudes.
Vor allem war ich beeindruckt von der Qualität der Exponate, sei es der zahreichen zeitgleich laufenden Sonderausstellungen oder der festen Sammlungen, vom Altertum über die Renaissance bis zur Contempory Art. So gut wie jeder namhafte Künstler ist vertreten, und immer mit starken Arbeiten.
Vielleicht ist es so, daß der relativ späte Start zum Aufbau dieses Museums im Jahre 1870 aus heutiger kuratorischer Sicht ein Vorteil ist.
Ausgestattet mit den schier unendlichen Finanz­mitteln amerikanischer Mäzene und Spender konnte das Museum eine Sammlung aufbauen, die nicht wie in vielen anderen Museen der Alten Welt historisch gewachsen war und lange den Geschmack einzelner Fürsten widerspiegelte, sondern die sich, rück­blickend aus der Distanz des 20. Jahrhunderts, seine kunstwissenschaftlichen Erkenntnisse nutzend und seine ästhetische Entwicklungen reflektierend, nur mit dem Besten der Besten zufrieden geben wollte.
Das Metropolitan Museum ist nicht an einem Tag zu besichtigen. Am besten man wählt sich eine der Sonderausstellungen aus und zwei bis drei der Themensammlungen, verläuft sich streunend in den verschiedenen, schön belichteten Gebäude­kom­plexen, findet schließlich zurück in die Eingangs­halle, setzt sich dort auf einer der prächtigen Galerien in acht Meter Höhe an einen der gediegenen Kaffeehaustische, bestellt sich einen sündteuren Cocktail und schaut, benommen von all der Pracht und Kunstschönheit, auf das Gewühle der kommenden und gehenden Besucher hinunter. Schon ist der Tag vorbei.
Geblieben sind mir ein paar Namen, die ich noch nicht kannte, wie zwei Bleistiftzeichnungen von Romare Bearden oder abstrakte Kompositionen in Öl von Arthur Seagal oder Fritz Glarner, alles Amerikaner des 20.Jahrhunderts und seit geraumer Zeit tot.

Romare Bearden im Metropolitain Museum

Erstmalig sehe ich einen echten Edward Hopper, Office in a Small City, und bewundere seinen Farbauftrag und sein Farbgefühl. Ich stehe ewig vor einem der Kathedralenbilder von Claude Monet und fotografiere die Schluchten und Täler der gotischen Rosette in maximaler Makroeinstellung.
Übrigens sind sämtliche dauerhaft ausgestellten Exponate, Fotos der Ausstellungsräume und die Sammlungen des Metropolitan Museums im Internet aufrufbar und ausführlich erläutert. So kann man nicht nur seinen Besuch in diesem Museum perfekt vorbereiten. Auch für den Fall, daß man ein Bild fotografierte ohne den Namen des Künstlers zu erinnern, besteht die famose Möglichkeit, diesen zu recherchieren.

IX_Brooklyn Museum

Weniger bekannt als das Städtische Museum der Künste ist das kleinere Brüderchen auf der anderen Seite des East Rivers, das Brooklyn Museum. Wobei klein ein ziemlich relativer Begriff ist.
Die Planungen für dieses Museum gehen auf das mittlere 19. Jahrhundert zurück, als Brooklyn noch eine eigenständige Stadt war (1898 eingemeindet). Ursprünglich als größtes Museum der Welt konzipiert, ist es schließlich bescheidener geraten und verfügt heute über ein Viertel der Flächen des Metropolitan Museum in Manhattan.
Mit seinen 1,5 Millionen Kunstwerken und der Qualität seiner Sammlungen gehört das Brooklyn Museum dennoch zu den großen Kunstmuseen der Welt. Ich hatte noch nie von davon gehört, was auch ein Licht auf die öffentliche Rezeption von Museen wirft, aber Mark und ein kleiner Plan, der alles Sehenswerte rund um Prospect Park notierte, hatte uns darauf hingewiesen.
Ich besuchte das neoklassizistische Gebäude alleine an einem Donnerstag, als wir von und für Manhattan mal wieder zu erschöpft waren und ich es genoß, in nur zehn Minuten zu Fuß und ohne jeden train von unserer Bleibe aus dorthin zu gelangen.
Brooklyn Museum empfing mich mit einem frisch vor den Eingang gesetzten modernen, stahlig-blau schimmernden und drahtseil-verspannten Glaspavillon-Rotunde, die in auffälligem Kontrast steht zu den sechs mächtigen dorischen Säulen des Portals und dem Tympanon darüber.
Man könnte es auch so sehen, daß dieser Pavillon ein irritierender Fremdkörper ist, der von der mächtigen Fassade des Museumsbaus gleich zermahlen und dann verspeist werden wird wie ein paar Hundekekse von einer Dogge.
Der erste Eindruck: ein mißglückter Versuch, durch bauliche Maßnahmen ein neoklassizistisches Gebäude den Ansprüchen einer modernen Eventgesellschaft anzupassen.
Gerechterweise muß man aber sagen, daß das durch den Pavillon erweiterte Foyer des Hauses gewonnen hat. Viel Tageslicht flutet in die große Halle, die durch diesen Glasvorbau auch selbst Ausstellungsfläche geworden ist.
Der zweite Eindruck: wow! Ich trete ein in diesen Pavillon, und erhalte als hors d‘œuvre schon mal eine komplette Rodin-Ausstellung. Bevor ich überhaupt an die Kassenrotunde vordringe, bleibe ich hier eine halbe Stunde hängen.
Ich studiere die schweren dunklen Bronzen Rodins und stelle fest, daß ich sie nicht mag. Sie sind mir zu theatralisch, die Körperformen manieristisch überbetont, die Gesten zu bedeutungsschwanger.
In Marmor aber, in schneeweißem Marmor, hat er etwas Großartiges geschaffen: eine aus dem Block geschlagene, noch immer mit diesem verwachsene und in ihn hineinkauernde, 70 cm kleine Danaïde, deren Rücken und Nacken, Hinterteil und zart angedeutetes Geschlecht derart lebendig sind, daß ich sie vorsichtig berühren muß (den Rücken), und die so erotisch auf mich wirkt, daß ich die heißeste Stelle dieses kleinen Körpers gleich mehrfach fotografiere. Zusammen mit den dazugehörenden Füßchen.

Danaide by Auguste Rodin
Danaide by Auguste Rodin / Brooklyn Museum

Das Herzklopfen, das mir alleine diese Danaïde bereitete, war es bereits wert, das Brooklyn Museum aufgesucht zu haben. Dabei hatte ich noch nicht mal ein Ticket gelöst.
Es ist Januar, Donnerstag, frühe Mittagszeit, als ich endlich eine Eintrittskarte kaufe. Das Museum hat für mich allein geöffnet. Es scheint mir so, als seien mehr Menschen im Dienst von Security, Ticketing und Aufsicht unterwegs als zahlende Freunde der Kunst. Alle sind wahnsinnig freundlich.
Das von meiner neuen Liebe Danaïde initiierte Herzklopfen steigert sich durch die Aussicht, ein Museum dieses Kalibers mehr oder weniger alleine zu durchstreifen. Denn ich habe eine Vorahnung davon, was passieren wird.
Ich kenne dieses Erlebnis aus Museumsbesuchen in Thüringen. Ob im Lindenau-Museum in Altenburg, im Museum Schloß Moritzburg in Zeitz oder, vor allem, in den Sammlungen der Stiftung Schloß Friedenstein in Gotha, um nur ein paar der bekannteren Einrichtungen zu nennen:
Hier wandelst du immer mehr oder weniger alleine durch Gemächer und Kunstsammlungen. Herausragende Arbeiten, von Handwerkern mit phantastischen Fertigkeiten und Künstlern mit feinsten Empfindungen über Jahrhunderte für Fürsten oder Patrizier, Könige und Götter erschaffen, warten zu Tausenden darauf, daß sie jemand besuchen kommt.
Kein Wunder, daß sie sich bedanken. Kein Wunder, daß die Räume und Gemälde zu erzählen beginnen. Man muß nur hinhören. Bei der großen Ruhe, die einsame Kunstsammlungen in ehrwürdigen Gemächern umgibt, sollte das jedoch kein Problem sein.
Solche Ausstellungen und Sammlungen sind das absolute Anti-Erlebnis zu den von der E.ON AG oder der Deutschen Bank durchfinanzierten und der Presse gehypten Superausstellungen, bei denen es zugeht wie im Schlußverkauf und die jeder gesehen haben muß ohne zu wissen warum.
Deshalb an passender Stelle hier ein Zwischenruf: Besucht die ostdeutschen Sammlungen und Museen, bevor sie es auch dort noch lernen, wie man Pressearbeit macht und ein Museum vermarktet! Besucht auch das Brooklyn Museum!
Denn, wie ich später lerne, auch das Brooklyn Museum hat ein Besucherproblem. Die Zahlen sind seit Jahren rückläufig und 2009 bei etwas über 300.000 Besuchern gelandet. Das entspricht 1000 Besuchern am Tag im Schnitt. Für ein Museum dieses Kalibers viel zu wenig.
Das Brooklyn Museum steht extrem im Wahrnehmungsschatten Manhattans. Seit Jahren diskutiert Brooklyn, wie es sich neu aufstellen soll.
Um 2000 herum hatte man den jahrelangen Versuch aufgegeben, durch Ausstellungen, die in Konkurrenz zum Metropolitan Museum stehen, internationales Publikum zu anzuziehen. Statt dessen sollten populistische Programme wie eine Star Wars-Ausstellung beim lokalen Publikum punkten. Das Konzept ging nicht auf.
Die New York Times zitierte dazu 2010 den Kritiker Robert Storr:
Star Wars’ shows the worst kind of populism. I don’t think they really understand where they are. The middle of the art world is now in Brooklyn; it’s an increasingly sophisticated audience and always was one.
Die Kritik scheint zu fruchten. Bei meinem Besuch im Januar 2012 habe ich ein hochkarätiges Programm vorgefunden, wie zum Beispiel die Ausstellung Hide/Seek: Difference and Desire in American Portraiture, die zuvor in Washington einen echten Skandal erzeugte.
Das Problem allerdings bleibt: keiner der in New York City einfliegt, will nach Brooklyn ins Museum.
Meine Erwartungen an das Museum wurden nicht enttäuscht. Obwohl ich eigentlich dachte, mich nicht sonderlich für ägyptische Kunst zu interessieren, verbrachte ich nur in dieser 3000 Jahre überspannenden und sehr gut kuratierten Abteilung mutterseelenalleine so viel Zeit, daß ich, bevor ich in die oberen Etagen zur jüngeren Kunst aufbrach, mich erstmal im Museumscafé stärken mußte.
Dabei erfreute es mich allen Ernstes, auf Menschen zu stoßen!
Später dann traf ich wieder auf Hoppers und Monets, von welchem letzteren dieses mit Minderwertigkeitskomplexen ringende Museum fünf an der Zahl hat. Kein einziges deutsches Museum kann meines Wissens da mithalten.
Ich lerne den in Rußland geborenen, aber in Brooklyn 1981 gestorbenen Konstruktivisten Ilya Bolotowsky kennen und den noch lebenden Amerikaner, dessen kleine ausgestellte Arbeit mir sehr gefällt.

Schon wieder ein Ruderboot? Thomas Nozkowski im Brooklyn Museum
Schon wieder ein Ruderboot? Thomas Nozkowski im Brooklyn Museum

Als ich das Museum verlasse, fordert mich ein Wachmann freundlich auf, eine Blume aus einer Installation im Eingangsbereich mitzunehmen und sie an den nächsten Passanten zu überreichen. Eine interaktive Installation des Künstlers Lee Mingwei, die die Kultur des Schenkens fördern möchte.
Mit einer Rose in der Hand trete ich den Heimweg an. Vielleicht keine große Kunst, denke ich mir, aber eine nette Idee. Es ist dunkel, und die Straßen um das Museum sind genauso verlassen wie seine Ägyptische Sammlung. Ich finde eine Frau auf dem Heimweg, afro-american, und frage sie, ob ich ihr die Rose schenken darf.
Sie geht einfach weiter ohne mich zu beachten. Ich gebe nicht auf und laufe ihr hinterher. Excuse me, ma‘am, sage ich, wie ich es aus amerikanischen Filmen kenne, but this is a gift of the Brooklyn Museum, and I am told to give it to the next stranger I meet. It is a kind of art.
Da bleibt sie stehen, schaut mich kurz an und nimmt ohne ein Wort zu sagen die Blume, die ich ihr unter die Nase halte.
Ich hatte ziemlich viel Herzklopfen an diesem Tag in Brooklyn.

X_Lower East Side

Stephen, ein weiterer Freund, der uns in New York begrüßte, ist Oboist, und wie viele Musiker ist er stets auf der Suche nach dem perfekten Instrument. Zusammen mit Joel, einem Instrumentenbauer in der Lower East Side, entwirft und realisiert er Oboen auf den Spuren der historischen Meister dieses Instruments. Stephen hat uns angeboten, gemeinsam die Werkstatt von Joel aufzusuchen.
Wir treffen uns am nächsten Tag um die Mittagszeit in einer griechischen Taverna in Stanton Street, in der zu unserer Überraschung kaum Betrieb herrscht. Während wir auf unseren Freund warten, trinken wir einen Kaffee und bleiben trotz mangelnden Kon­sums unbehelligt, wie es sich für eine Taverna gehört.
Als Stephen kommt, setzt er sich zu uns, ohne etwas zu trinken. Kurz danach erscheint Joel, ein hagerer Typ mit einer schrägen Filzmütze, etwas zerstreut wirkend, wenngleich nicht unfreundlich. Wir brechen auf. Zwei blocks weiter stehen wir vor einem ziemlich heruntergekommenen sechsstöckigem Gebäude, Marke stilloser Funktionalismus ohne Jahreszahl.
Joel schließt eine schäbige Tür auf, wir treten in eine dunkle enge Kammer, am anderen Ende die Gittertüre eines Aufzuges wie aus einem Film noir. Nur daß hier kein Platz ist für irgendeine Kamera noch Licht.
Joel telefoniert. Wir lernen, daß der Lift nur aus dem Kabinenkäfig selbst zu bewegen ist. Da dieser soeben im fünften Stock steht, hilft nur das Handy. Irgend jemand im fünften Stock schickt ihn runter. Wir warten, während es rumpelt, in dem schmutzig­sten Raum, in dem ich mich jemals befunden habe, kurz davor, klaustrophobische Zustände zu bekommen.
Der Gitterkasten, in den wir schließlich einsteigen, ist mindestens hundert Jahre alt. Das könnte roman­tisch sein, würde nicht der Dreck, der ohne Über­treibung ein inch hoch auf den Stahlprofilen liegt, signalisieren, daß er ebensolang nicht gewartet wurde. Immerhin bewegen wir uns jetzt nach oben, was Angstzuständen entgegen wirkt.
Oben angekommen, im sechsten Stock unter dem Dach, werden wir von Leslie begrüßt, mit der Joel sich die Werkstatt teilt. Leslie baut die baßlagigen großen Brüder der haut bois, nämlich Fagotte, oder, wie der Angelsachse sagt, bassoons.
Joel und Leslie sind early music freaks, sie bauen keine modernen Oboen und Fagotte, sondern studieren die winds der Alten Meister des Alten Kontinents des 18. und 19. Jahrhunderts in den Sammlungen und Museen der Welt. Sie versuchen hinter die Geheimnisse ihrer Meisterschaft zu kommen und ihre Techniken zu kopieren und zu verstehen, in der Überzeugung, daß diese Instrumentenbauer die wunderbarsten Instrumente schufen und in der Gewißheit, daß von ihrem Wissen vieles heute verloren ist.
Der Raum, in dem die beiden, Werktisch an Werktisch und doch jeder für sich, diese Studien betreiben, ist ca. 40 Quadratmeter groß und vollgestellt mit Regalen, Maschinen, Werkzeugen, Bohlen edler Hölzer und Krempel aller Art.

Instrumenten-Werkstatt in der Lower East Side
Oboen drehen ohne Heizung: Lower East Side

Die Wände sind unverputzt, der Backstein gekalkt, die Decke roher Beton, Leitungen und Kabel sind offen verlegt. Eine Heizung existiert nicht, wenn es sein muß, wird mit Strom geheizt. Bis dahin müssen Handschuhe, Leslies viellagige Wickelkleider und Joels Filzmütze dafür Sorge tragen, daß Finger und Ohren durchblutet bleiben.
Während Joel Stephen sein neuestes Werkstück präsentiert und Stephen sogleich darauf zu spielen beginnt, führt uns Leslie als erstes aufs Dach. Auf dem Weg dorthin betreten wir das Treppenhaus, das es immerhin gibt und in dem man sofort eine Szene aus dem ersten Teil von Once Upon a Time in America / Teil 1 drehen könnte, entern eine Holzstiege und treten durch eine Stahltüre auf das Flachdach, das von einer Mauer umgeben ist.
Man kennt es aus eintausend Filmen: amerikanische Dächer sind Aussichtsplattform, Terrasse, Fluchtweg, Werbeträger, Beobachtungsposten, Lebensraum für Taubenzüchter, Bienen und Tomaten, Landeplatz für Helikopter oder Bühne für Selbstmörder. In jedem Fall belebt.
Erstmalig denke ich darüber nach, warum das in Deutschland nicht so ist. Das klassische Satteldach mit Ziegeleindeckung, das ist klar, ist seit Jahrhunderten die einfache und dauerhafte Art, das Eindringen von Regenwasser in ein Gebäude zu verhindern. Je steiler das Dach, desto effektiver die Entwässerung.
Vor der Erfindung der Dachpappe, der Schweißbahn oder des Zinkblechs war in den verregneten europäischen Gefilden die Dichtigkeit eines Flachdaches eigentlich nur mit Kupfer zu bewerkstelligen, und das war teuer. So prägt bis heute das Satteldach das Bild nicht nur der Dörfer, sondern auch der großen Metropolen Nord- und Mitteleuropas.
Dennoch gibt es auch in Deutschlands Städten spätestens seit den Fünfziger Jahren zahlreiche Flachdächer auf Wohn- und Gewerbegebäuden. Begehbar jedoch sind diese nie, von nutzbar ganz zu schweigen. Denn Flachdächer zu nutzen unterstellt natürlich ein Mauerwerk in Brüstungshöhe rundum. Und so etwas gibt es einfach nicht in Deutschland, warum auch immer.
Daß das Thema Flachdachentwässerung auch in Amerika im 21. Jahrhundert nicht unproblematisch ist, sehen wir allerdings sofort, nachdem wir auf Leslies Dach getreten sind.
Dieses Dach WAR vielleicht mal eine Terrasse mit Ummauerung. Was wir sehen ist eher eine Art schwarze Badewanne aus zahllosen Schichten von Teerpappe, die aus dem rechten Winkel zwischen Mauer und Dachboden eine riesige Hohlkehle geformt haben und die inzwischen so dick auftragen, daß die Brüstungsmauer im siebten Stock auf Hüfthöhe endet.
In dieser Höhe nähert man sich einer solchen Brüstungshöhe, die eigentlich Hüftungshöhe heißen müßte, sehr vorsichtig. Aber die Möglichkeit, von oben einen Blick auf eine Straße in New York City zu werfen, dürfte so schnell nicht wieder kommen. Ich pirsche mich heran, lege die Pentax auf und mache ein Foto von der legendären Lower East Side, dem Scherbenviertel New Yorks, das hier tatsächlich noch so heißen darf.

Immer noch nicht richtig schick
Noch nicht fertig mit der gentrification: Lower East Side an der Rivington Street

Leslie erklärt uns das Panorama, eine wilde Mischung von völlig verwahrlosten Gebäuden, gentrifizierten Dachterrassen und Glaspalästen. Sie erzählt von dem 25stöckigen Hotelbau gleich nebenan, der nicht genehmigt und dennoch gebaut wurde und davon, daß es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sie und Joel sich die Miete für ihre Werkstatt nicht mehr werden leisten können.
An ihren landlord, der in seine Bruchbude, deren Dach wahrscheinlich demnächst unter der tonnenschweren Last der jahrzehntelang übereinandergeklebten Dachpappen zusammenbrechen und dann Leslie und Joel erschlagen wird, der in diese Bruchbude also seit dem Ende von World War II außer für Dachpappe keinen einzigen Cent gesteckt hat, dessen Räume weder über sanitäre Einrichtungen, die diesen Namen verdienen, verfügen, noch über eine Heizung, und dessen Aufzug nie gereinigt oder beleuchtet, geschweige denn inspiziert oder gewartet wurde, an diesen Beutelschneider zahlen die beiden Instrumentenkünstler für ein paar squarefood 2000 Dollar im Monat.
Hier ist es wieder, das Phänomen Manhattan: hier zu leben und zu arbeiten rechtfertigt alles. Keiner regt sich darüber auf. Außer den Deutschen.

XI_Satmars

Neben der harten und unverblümten amerikanischen Lesart von Kapitalismus und Demokratie – reich werden oder Schnauze halten – liegt noch etwas jenseits des Horizontes idealisierender deutscher Demokratievorstellungen: die der amerikanischen Parallelgesellschaften.
Aus dem Mund eines deutschen Politikers ist das Wort Parallelgesellschaft eine Kampfansage, im Bedeutungsumfeld von Al Kaida, Islamismus und Zwangsheirat. Etwas, das unbedingt vermieden werden muß. Wegen des sozialen Friedens, wie sie sagen. Wegen der sozialen Kontrolle, wie sie denken.
In den USA dagegen ist die Tatsache, daß viele ethnische, nationale oder religiöse Gruppen nicht nur sozial, sondern auch räumlich getrennt leben, so normal wie der 20prozentige Tip beim Deli-Besuch. Ein weiteres beeindruckendes Beispiel dafür erlebten wir in Williamsburg, Brooklyn.
Links und rechts der Auffahrt der Williamsburg Bridge liefern sich zwei der am schnellsten wachsenden communities New Yorks einen meist lautlosen, bisweilen aber auch spektakulären Wettlauf um Straßen und blocks: die Hipster im Norden und die jüdischen ultraorthodoxen Satmar-Chassidim im Süden, die schon seit über hundert Jahren hier sind. Die Hauptlebensader beider ist die in Nord-Süd-Richtung verlaufende Bedford Avenue, die längste Straße Brooklyns.
Wir spazieren zuerst durch das Viertel der Ultraorthodoxen. Gleich hinter der ersten U-Bahnstation, von Manhattan kommend, öffnet sich einmal mehr der Vorhang zu einem Film. Er spielt in einem Jüdischen Viertel in Berlin oder Warschau der Zwanziger Jahre.
Wie mit der Arriflex auf Schienen rollen wir langsam in diese uns irreal erscheinende Welt hinein und drehen das quirlige Leben einer beschaulichen Einkaufsstraße mit koscheren Bäckereien, jiddisch textenden Lebensmittelläden und Reisebüros, die in hebräisch Direktflüge nach Tel Aviv zum Sonderpreis anbieten.
Die Männer, wie stets in den Nachrichten zu sehen, wenn es um das Stichwort „ultraorthodox“ geht, mit Kringellöckchen an den Schläfen, schwarzen Mänteln bis zum Boden und großen Hüten, immer, wie es scheint, in geschäftiger Eile. Aber nicht sie sind es, die unsere Aufmerksam­keit auf sich ziehen.
Es sind die vielen Frauen, die, umgeben von der Schar ihres Nachwuchses, Kinderwägen im Retro-Design mit großen altmodischen Rädern und geflochtenen, beigefarbenen Körben vor sich her schieben und eilig ihre Einkäufe erledigen.
Die Kinder wie die Orgelpfeifen von eins bis sechs, die andere Hälfte des Nachwuchses wahrscheinlich bereits in der Tora-Schule und/oder auf der Highschool.
Wie alle expatriierten religiösen Gemeinschaften sorgen sich auch die ultraorthodoxen Juden in ihrer Diaspora, die längst keine mehr ist, durch Kinderreichtum intensiv um den Bestand ihrer selbst. Die ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaft in New York City ist inzwischen mit ca. 250.000 Mitgliedern weltweit die größte außerhalb Israels.
Die Frauen und Mütter tragen dunkle kniebedeckende Faltenröcke, absatzlose Schuhe und hochgeknöpfte Jacken, alles aus feinem Stoff und gut geschnitten, aber seltsam altmodisch wirkend in einer Farbpalette zwischen grau über braun bis schwarz. Armani-Farben eben.
Und noch etwas anderes fällt uns auf, genauer gesagt meiner Frau Judith, deren Ahnengalerie väterlicherseits im 19. Jahrhundert zum preußischen Protestantismus konvertierte Juden aufweist – was, nebenbei bemerkt, ihrem Großvater auf bizarre Art und Weise das Leben kostete, indem er nämlich 1935 nach England emigrieren mußte, dort als Deutscher erst interniert, dann nach den USA zwangsverschifft und auf dem Atlantik schließlich von deutschen Torpedos ermordet wurde – Judith also, mit jüdischen Bräuchen halbwegs vertraut, fällt noch etwas anderes auf: Viele Frauen tragen Perücken.
Um züchtig ihr schönes Haar zu verbergen, das nur ihr Mann sehen können soll, sagt Judith. Um ihren nackten Schädel zu verbergen, den sie jeder Frau mit ihrer Heirat rasieren, um der schmutzigen Sexualität möglichst jeden Anflug von Sinnlichkeit und Spaß zu nehmen und sie so ganz auf die Funktion der Fortpflanzung zu reduzieren, sagen böse, ebenfalls jüdische Stimmen im Internet.
Vermutlich stimmt beides, auch die Ultras unter den Juden sind keine homogene Gruppe. Die Satmars unter ihnen lehnen sogar Israel ab, da nur der Messias sie ins gelobte Land führen könne. Auch so geht Antizionismus.
Auffälliger noch als Kleidung und Kopfschmuck sind die Frauen selbst: zarte, schmale Wesen, von auffallend weißer Hautfarbe mit scharf geschnittenen, schönen, sehr mitteleuropäisch anmutenden Gesichtszügen. Inmitten ihrer uniform gekleideten, lauten und lebhaften Kinderschar, die sie stets aufs engste umgibt, strahlen sie einen großen Stolz aus.
Wieder denke ich an den Film Once upon a Time in America, diesmal an das kleine jüdische Mädchen, das zur Musik vom Grammophon heimlich im Lager ihres Vaters tanzt. Es ist genau der gleiche Typ Frau. Einmal mehr denke ich, was für ein großartiges Meisterwerk doch Sergio Leone mit diesem Film geschaffen hat.
Auch für mein fiktionales Filmepos über die zwanziger Jahre in Berlin oder Warschau haben die Castingagenturen, Location-Scouts und Kostümbildner hier in South Williamsburg ganze Arbeit geleistet. Allerdings lasse ich trotz dieser perfekten Kulisse meine reale Kamera stecken. Auch wenn unsere Anwesenheit als Tourist niemanden zu stören scheint, beschämte es mich hier mehr als sonst, fremde Menschen ungefragt zu fotografieren.

Hassidim in Brooklyn

Erst später, in der fortgeschrittenen Dämmerung, will ich doch zumindest ein Bild aus dieser Welt mit nach Hause nehmen und postiere mich in der Bedford Avenue mit der großen Kamera vor dem Auge, scheinbar die Straße hinunter fotografierend, in Wirklichkeit abwartend.
Als endlich Menschen die Szene beleben und rechts unten im Sucher der Kamera erscheinen, drücke ich den Auslöser, in der Hoffnung, den Eindruck zu vermeiden ich fotografierte ihretwegen. Es ist eine junge Mutter mit drei kleinen Kindern.

XII_Williamsburg

Überquert man die Auffahrt der Williamsburg-Brücke Richtung Norden, nähert man sich jenem Viertel, das in den letzten Jahren die meiste Aufmerksamkeit der internationalen Berichterstatter aus New York genoß, wenn es um das geht, was auch in Amerika zeitgeist heißt.
Der Name Williamsburg steht für Gentrifizierung. Für ein Viertel, das vor 30 Jahren noch aus zahlreichen ungenutzten alten Lager- und Produktionshallen bestand, schließlich die Manhattaner Künstlerszene für sich entdeckte – 600 m² großen Lofts mit Blick über den East River und auf die Skyline von Manhattan für eine Handvoll Dollar, dafür allerdings immer 50 Dollar in der Tasche mit der Bereitschaft, diese auf Verlangen sofort herauszurücken –, und wo heute Luxusappartments entstehen mit Quadratmeterpreisen, die sich jenen Manhattans annähern.
Die Menschen, die sich dort in großer Zahl niederlassen, heißen angeblich Hipster. Die den Zeitgeist der Stadt verfolgenden Medien können das Wort Williamsburg nicht mehr denken ohne das Wort hipster mitzudenken, und umgekehrt. Nun also Williamsburg.
Mark meinte, es sei quite nice, da mal durch­zulaufen, allerdings empfehle es sich, vorher über seine persönliche lebenslange CO2-Bilanz Rechenschaft abzulegen: Did you check your carbon footprint!? Auch über die Hipster macht Mark sich lustig.
Ich befrage das Internet. Der Ruf des Hipsters ist schlecht. Eitel, verwöhnt, arbeitsscheu, von Vatis Geld lebend, unpolitisch, beschissen angezogen, Pseudo-Kreative, die sich mit dem angebissenen Apfel stundenlang bei starbucks wichtig tun etc. Das Netz ist voll von Anti-Hipster-Persiflagen.
Was aber ist wirklich so schlimm an zu großen Brillen und zu engen Hosen? Daß sie keine Systemkritik formulieren? Daß sie sich für Avantgarde halten, aber in Wirklichkeit affirmative Konsumfetischisten sind? So what?
Ich stoße auf eine Internetseite, die die US-amerikanischen Städte nach ihrer Hipster-Eignung durchgecheckt hat und lerne, daß
there is also an eco-conscious influence in contemporary hipsterdom
Na also. Über die Stadt Portland, Oregon, zum Beipiel lese ich ebendort folgende wunderbare Empfehlung:
(At Portland, Or,) you can experience several levels of Portland’s unique hipster zeitgeist: buying vintage clothing inside a double-decker bus at Lodekka; playing shuffleboard in the unmarked bar Vendetta; or pedaling on the stationary bikes that actually generate electricity for organic micropub Hopworks BikeBar.
In der Hopworks-Radlkneipe in Portland kann man also beim Bio-Biertrinken zugleich auf dem inversen E-Bike Strom zurück ins Netz treten. Dazu gibt’s Essen mit Zutaten ausschließlich aus der Region und andere Angebote, die den persönlichen carbon footprint möglichst flach halten (Vintage-Klamotten!).
Der moderne Hipster in Amerika ist also ein Öko-Fundi, und in NYC versammelt er sich in Nord-Williamsburg. Der Süden dieses Stückes Brooklyn wird, wie geschildert, von Fundamentalisten anderer Provenienz bevölkert.
2009 kam es zwischen beiden communities zu einem wunderbaren, weil unvermeidlichen clash of cultures. Die Hipster, Männlein wie Weiblein in bisweilen auch Haut zeigenden, bunten unisex-Klamotten, auf alten französischen Rennradrahmen mit starrer Nabe ihren carbon footprint bekämpfend, müssen auf dem Weg nach Manhattan über die Williamsburg Bridge und damit über Territorium, das die chassidischen Fundis ebenso beanspruchen.
Die Rabbis beschwerten sich bei Bloomberg, dem Bürgermeister, über unzumutbar leicht bekleidete Damen auf Fahrrädern, woraufhin dieser sofort eine mit weißer Farbe soeben noch frisch markierte bike lane von der Stadtverwaltung wieder entfernen ließ.
Damit begann der bike lane war, den eine Hipster-Stadtguerilla mit nächtlichen Markierungsstrich­aktionen und Auffrufen zu bekleidungslosen Fahrraddemos durch das Viertel der Ultraorthodoxen führte. Blöderweise kulminierte dieser Krieg mitten im Winter, und so fegte ausgerechnet am geplanten Nacktfahrraddemotag ein Blizzard durch New York.
Die Kampfmoral der Hipster brach zusammen. Die an diesem Tag extra zum Tittenglotzen über den East River gekommenen NYPD-officer gingen leer aus. Einige aus dem Häuflein von Rad-Aktivisten versuchten es noch mit Attrappen und traten mit über den Anorak geschnallten Plastikbusen gegen den Wind an. Das war aber nix.
Inzwischen liest man nichts mehr über diesen Konflikt, der am besten dokumentiert ist in einem Video auf youtube. So kann ich leider nicht berichten, wo die aktuellen Fronten des bike lane war an der Williamsburg Bridge inzwischen verlaufen oder ob es inzwischen einen tragfähigen Kompromiss gab.
Die Region nördlich der Williamsburg Bridge hat hinter sich, was in Red Hook noch nicht begonnen hat. Die Industriegebäude, Lagerhallen und bescheidenen Bürgerhäuser aus dem 19. Jahr­hundert und der Vorkriegszeit sind allesamt mehr oder weniger wiederhergestellt und, wenn man von einigen protzigen Neubauten direkt am Wasser absieht, auch mit Gefühl und Geschmack.
Bedford Avenue, eben noch Zentrum der ultraorthoxen Juden, ist zwei Kilometer weiter im Norden ein Viertel voller avantgardistischer Kneipenkonzepte, feiner Trödelläden, duftenden Schokoladen-Manufakturen, Long Island-Gemüse vermarktenden organic food shops, art galeries und kulturellen Hotspots jeder Art.
Hipster oder nicht, Williamsburg ist quirlig belebt und super jung. Wir laufen durch das Zentrum dieses Viertels und kommen uns schon wieder vor wie im Film. Diesmal: Planet der Affen. Was haben sie bloß mit den Über-Vierzigjährigen gemacht? Wir fangen an zu suchen, schauen in jedes uns entgegen­kommende Gesicht mit der bangen Frage, wie alt es wohl sein könnte.
Der Unterschied zum Beispiel zu Park Slope ist auffällig. Während dort auch graue Haare zum Straßenbild gehören, mußt du diese im Hipsterviertel Williamsburg suchen. Es gibt sie, wie wir dann doch erleichtert feststellen, aber etwa mit der Häufigkeit wie auf dem Campus einer Universität.
Unser Spaziergang durch das jüngste Viertel der Stadt endet mit Einbruch der Dämmerung in der Wythe Avenue, in einer zum Weinladen umgenutzten Lagerhalle, die über eine alte Laderampe zu betreten ist.
Der Laden heißt BOE, dem Kürzel für Brooklyn Oenologie. BOE bezeichnet sich als winery, sprich als Weingut oder Kellerei, und in der Tat verkaufen sie ihre selbstgekelterten Weine. Darunter neben Merlot, Riesling und Sauvignon Blanc auch Sorten wie Viognier oder Vidal Blanc oder diverse eigene Mischsätze.
Interessanterweise besitzt BOE keine eigenen vineyards, sondern kauft im ganzen Staate New York bei diversen Winzern die Trauben ein. Lediglich Ernte, Pressung und Fermentierung geschehen unter der Kontrolle von BOE.
Auf den Flaschen ist die regionale Herkunft der Trauben vermerkt, um Lagenweine mit terroir im engeren Sinne handelt es sich dabei natürlich nicht. Die Preise sind für europäische Verhältnisse gehoben, beginnend mit 13 $ für eine Flasche Chardonnay.
Der BOE tasting room in Williamsburg ist an jenem frühen Abend im Januar, als wir hungrig und durstig eintreten, ohne weitere Gäste, ein junger Mitarbeiter packt Kisten aus. Wir setzen uns an einem Vintage-Tisch in ein Vintage-Sofa und bestellen uns zwei Degustations-Gläser Sauvignon Blanc sowie die üblichen Kleinigkeiten dazu.
Der Sauvignon ist grasig-grün wie wir ihn mögen, perfekt temperiert und wird in schönen Gläsern freundlich serviert.
Wir haben den ganzen großen Raum mit seinen schwarz gestrichenen Stahlträgern und rohen Ziegelwänden, den Industriefenstern und der jungen Kunst an den Wänden für uns alleine und genießen das sehr.
Wir dürfen sitzen bleiben, so lange wir wollen und atmen tief durch. Wir atmen New York in einer Atmosphäre südländischer Gelassenheit.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert