Ein Projekt für Arnstadt und die Europäische Stadt 2019 / 24 / 29 ff
„Nur der Stadtbürger ist Staatsbürger“
Alexander Mitscherlich / Die Unwirtlichkeit unserer Städte
Gliederung:
Die Idee:
Die Leerstände der Stadt als Bühne eines internationalen Dialogs zwischen Kunst, städtischem Raum, Bürgern und Besuchern
Das Problem:
Viele Kleinstädte stagnieren – warum?
Der Musterfall:
Arnstadt in Thüringen
Die Perspektive:
Soft gentrification als (Teil von) Wirtschaftspolitik
Das Projekt:
Die Analoge Stadt – Kristallisationskeim für eine lebendige Stadt
Die Idee:
Die Leerstände der Stadt als Bühne eines internationalen Dialogs zwischen Kunst, städtischem Raum, Bürgern und Besuchern
Ausgangspunkt des hier vorgestellten Projektes Quintennale Analoge Stadt ist folgende Überlegung:
Wenn eine wirtschaftlich gesunde Stadt mit ihrem städtischen Raum, ihren zahlreichen historischen Gebäuden von der Romanik bis in die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und der sie umgebenden Kulturlandschaft wesentliche Voraussetzungen erfüllt, ihren Bürgern attraktive Lebensräume zu bieten – warum entstehen diese nicht?
Und: Was können wir aus den Gentrifizierungsprozessen in den Metropolen lernen und wie lassen sich diese Erkenntnisse auf eine europäische Kleinstadt anwenden? Kann ein Kunstprojekt, das ausgewählten internationalen Künstlern städtische und private Räume einen Sommer lang zur Verfügung stellt, als Anregung dienen, wie diese Räume dauerhaft im Sinne einer lebendigen Stadtkultur zu nutzen sind?
Das Problem:
Viele Kleinstädte stagnieren – warum?
1_Die Migration in die Zentren
Immer mehr zieht es die Menschen in jene Viertel der großen Städte, die als multifunktionale Siedlungszonen wiederentdeckt wurden: Hier findet Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Lernen, Kultur, Genuß und Freizeit nebeneinander statt als ineinander verschränkte Lebensbereiche. Dieses Model von Urbanität prägte jahrhundertelang erfolgreich die Europäische Stadt und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine um sich selbst kreisende Moderne zerstört.
Die jungen Menschen wollen die Lebendigkeit der Metropole, die älteren die autofreien kurzen Wege, alle zusammen eine nicht aus purem Funktionalismus heraus entstandene, sondern schöne, weil gewachsene, gestaltete und vielfältige Architektur.
Die kleinen Städte haben, wie die Metropolen, zwar den lebenswerten Raum, die Hardware sozusagen. Es fehlt aber das, was heute unter Lebensqualität firmiert: Kunst und Kultur, Kunsthandwerk und Galerien, einfallsreicher Einzelhandel und gutes Essen, Bildungs- und soziale Angebote in guter Qualität und Vielfalt. Es fehlen die Ideen, wie diese Räume zu nutzen seien.
2_Die Digitalisierung des Handels
Nachdem die Malls auf der grünen Wiese oder am Stadtrand den historischen Zentren bereits großen Schaden zugefügt haben, ist mit den Wachstumsraten von Unternehmen wie Amazon und Zalando eine weitere Entwicklung absehbar, die den Kleinstädten endgültig das Leben entzieht. Der klassische Einzelhandel verliert seine Basis an das Internet. Die klassischen Sortimente, insbesondere aus dem Low Budget Bereich, sind nicht in der Lage, genug Kaufkraft auf sich zu ziehen, um dauerhaft erfolgreich zu wirtschaften. Dennoch setzen fast alle Akteure meist auf noch günstigere Angebote. Eine fatale Fehlentwicklung.
Die Perspektiven sind entsprechend: Viele Subzentren befindet sich in der Gefahr, in eine Abwärtsspirale zu geraten von zunehmendem Leerstand, Verödung der Innenstädte, abnehmender Attraktivität für Leistungsträger und negativer Bevölkerungsentwicklung. Dieser Knoten kann nicht von den Akteuren vor Ort zerschlagen werden, weder von den lokalen Händlern noch von der Politik.
3_Die beschleunigte Mobilität
Die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Versorgung wird verschärft dadurch, dass wir alle durch unsere Schnellstraßen immer mobiler werden. Wer heute, um ein schlagendes Beispiel zu bringen, im Gewerbegebiet der Stadt Arnstadt in Thüringen arbeitet, einer sehr großen Gewerbezone mit zahlreichen Unternehmen auch aus dem produzierenden Gewerbe, kann problemlos täglich aus Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Jena oder Gera anfahren, ohne große Staus. Viele pendeln sogar aus Hessen hierher. Unter einer Stunde ist das zu schaffen.
Erst haben wir unsere Lebensbereiche in verschiedene Quartiere aufgeteilt. Heute verteilen wir sie gleich auf verschiedene Städte. Wir arbeiten in Arnstadt, gehen zum Einkaufen nach Erfurt, ins Kino in Weimar, aber wir leben in Meiningen oder Sömmerda.
Der Musterfall:
Arnstadt in Thüringen
Mit einem einem ungewöhnlich intaktem historischen Zentrum, einer ausgezeichneten Anbindung an zwei Autobahnen, einem hohen Naherholungswert in einer weitgehend intakten Kulturlandschaft und den baulichen und musealen Schätzen aus seiner Zeit als prächtige Residenzstadt im 17. Jahrhundert verfügt die Kreisstadt Arnstadt (ohne umliegende Gemeinden gut 20.000 Einwohner) über gute Bedingungen für blühende Landschaften.
Und in der Tat: in den letzten zehn Jahren ist die Arbeitslosenquote im Landkreis von 17 auf gut 7% gefallen, die Unternehmen zahlen Gewerbesteuer, veranstalten girls days oder family days, um Arbeitskräfte zu attrahieren und zu binden, und organisieren sich in einer Initiative, um ihre gemeinsamen Standortinteressen gegenüber Stadt, Kreis und Land zu vertreten. Das Hauptinteresse lautet: wie werden wir als Standort attraktiver für die Arbeitskräfte, die wir brauchen?
Hier allerdings liegt das Problem. Denn trotz günstiger Faktoren nimmt der Leerstand zu, der schöne Marktplatz ist kein Treffpunkt, die Übernachtungen stagnieren. Tourismus findet in der Stadt, die sich Bachstadt nennt, kaum statt. Ein Hotel der gehobenen Kategorie hat bereits die Segel gestrichen. Die Händlerschaft ist frustriert, oft überlebt nur, wer in der eigenen Immobile sitzt, oder Filiale eines Konzerns ist, der strategisch operiert.
Der Erfolg des großen Gewerbegebietes scheint wie abgekoppelt von einer Wiederbelebung der Stadt. Die alten Rezepte funktionieren nicht mehr. Nur langsam erkennt man, das etwas schiefläuft.
Die Perspektive:
Soft gentrification als (Teil von) Wirtschaftspolitik
Wenn wir über den Horizont einer Kleinstadt in Thüringen hinausschauen, finden wir überall Beispiele, die zeigen, dass es auch anders geht. In vielen Quartieren Europas und den USA, in großen Städten wie in kleinen, entsteht wieder eine kleinteilige Infrastruktur der Versorgung mit Milchläden und Modegeschäften, winzigen Brauereien und Schokomanufakturen, Bistros in alten Gemäuern und Cafés mit Selbstgebackenem. Es geht beim Einkaufen eben auch um Anfassen, Plaudern, Beraten, Probieren, Bewegen, Begegnen, Schauen, Intimität, Individualität, Abwechslung usw. – kurz: um soziales – analoges – Erleben.
Die europäische Stadt (ebenso übrigens wie die orientalische!) ist das urbane Lebensmodell, das jahrhunderte lang perfekt funktioniert hat, dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, durch eine irrlichternde Moderne verkannt und verachtet worden und schließlich im wahren Sinne des Wortes unter die Räder gekommen ist („autogerechte Stadt“). Dank Planern und Architekten, die das, was immer zusammengehörte – Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Freizeit – absurderweise in getrennte Quartiere verbannten und immer noch verbannen.
Noch ist es nicht zu spät. Die europäische Kleinstadt kann überleben, wenn sie sich begreift als das analoge Gegengewicht der und Ausgleich zur digitalen Welt. Als Ort der Sinnlichkeit. Als analoge Stadt, die dem Menschen gerecht wird. Denn genau das ist der Gehalt des griechischen Begriffes análogos, der mehr umfaßt als die Negation des Digitalen: ἀνάλογος bedeutet: verhältnismäßig, entsprechend – dem Menschen entsprechend.
Der Schlüssel zur Wiedererweckung der Stadt als Ort des sozialen Lebens liegt in Kreativität, Kunst und Kultur in einem erweiterten Sinne. In einem neuen Begriff von Kultur, der das klassische Verständnis derselben als (mehr oder weniger elitären) Genuss von (Bau-)Kunst und Musik erweitert um eben diese Welt des individuellen, kreativen, authentischen, Einfachheit und Ursprünglichkeit suchenden, nachhaltig denkenden und regional orientierten Entrepreneurs, der Altbewährtes wiederentdeckt und fortführt, international erfolgreiche Ideen kopiert und in neue Konzepte überführt.
So weit ist es gekommen, dass all das, was jahrhundertelang der normale Alltag des Sich-Versorgens und Vergnügens im eigenen Stadtviertel war, uns heute als vorbildliches, fast schon avantgardistisches Projekt einer kreativen Kulturelite in den Metropolen der Welt erscheint!
Die Hipster-Bohème also als Retter der europäischen Stadt? Allem Gentrifizierung-Katzenjammer zum Trotz: diese Bohème weist die Richtung. Kunst und Kultur bewegen immer mehr Menschen, kreative Läden, Dienstleister und Handwerker sind Katalysatoren für Tourismus und Handel. In Deutschland haben einige Städte diese Erkenntnisse bereits in Politik umgesetzt, zum Beispiel Halle (ZEIT vom 25.09.2014: Sie hassen die Provinz) oder Mannheim (SZ vom 16.05.2014: Eine Stadt wagt den Aufbruch)
Die Rezepte sind alle geschrieben, wir müssen sie nur in die Hand nehmen. Auch die Zutaten sind alle da. Die Wirtschaftspolitiker allerdings, die immer noch glauben, dass erst mal anständig Geschäfte angeschoben werden müssen, bevor etwas an die Kultur verteilt werden kann, müssen lernen umzudenken. Denn in gewissem Sinne ist es heute genau andersherum. Die meisten Unternehmer haben das längst erkannt.
In der Sprache dieser Wirtschaftspolitiker geht es um die „weichen“ Standortfaktoren, die letztlich in eine Frage kummulieren: Was bietet mir, meiner Frau und meinen Kindern diese Stadt, wenn ich hier wohne, Miete zahle oder baue? Die Stadt, die auf diese Frage der weltweit umworbenen qualifizierten Arbeitsmigranten dauerhaft keine überzeugende Antwort geben kann, wird ihre Seele und ihre Souveränität verlieren.
Das Projekt:
Die Analoge Stadt – eine Quinquennale als Aladin für den kreativen Flaschengeist in uns allen
Ein dutzend internationale Künstler in residence, Ateliers, Werkstätten, Cafés, Galerien, Musik, Treffpunkt, Flaniermeile und Symposien – in 14 einmaligen aktuell ungenutzten Locations. 100 Tage lang Ateliers in der ganzen Stadt. Ein Aladin für den kreativen Flaschengeist in uns allen. Das ist die Analoge Stadt.
Wie viele Städte im Osten Deutschlands verfügt auch Arnstadt in seiner Altstadt und in stadtnahen (ehemaligen) Gewerbezonen aus der Gründerzeit über zahlreiche leerstehende, un- oder nur sporadisch belebte und für provisorische künstlerische und gastronomische Aktionen nutzbare Locations.
Kunsthalle Arnstadt / Spittel / Prinzenhof / Kemenate / Alte E-Werk / Bahlsen-Brauerei / Verlagsdruckerei / Christophorus / Schwarzen Bär / ehem. Nähsaal der Möllerschen Handschuhfabrik / Milchhof und weitere historische Wohn- oder Industriegebäude.
Das Kunstfest stellt diese Räume und/oder Gebäude jeweils einem Künstler für die Dauer der Veranstaltung kostenlos zur Verfügung als Atelier und Galerie. Zusätzlich organisiert der Veranstalter in jeder dieser Locations Sitzgelegenheiten, eine Küche oder Kochgelegenheit für einen Bar- oder Cafébetrieb, außerdem Toiletten und Strom etc.
Die internationalen Künstler gehen während der Dauer des Festes Ihrer Kunst nach und halten dabei die Werkstätten offen: als Treffpunkt, Ort des Genusses und der Begegnung. Neben ihrer künstlerischen Arbeit heißen sie die Besucher in ihrem Atelier-Café willkommen, erläutern diesen ihre Kunst oder beziehen sie in ihre Aktionen ein.
Bürger und Schüler der Stadt stehen ihnen den Künstlern zur Seite, um den Bistro- oder Cafébetrieb aufrechterhalten, Konzept und Arbeit des Künstlers zu erläutern und Verantwortung zu tragen für den ordnungsgemäßen Ablauf des ihnen anvertrauten Ateliers.
In wechselnder Folge ist am Wochenende jedes Atelier Ort eines Konzertes, eines Theaterstücks, eines Puppenspiels oder einer Lesung. Die Ateliers sind in jedem Fall öffentlicher Raum mit einem Angebot für alle Sinne, eine Einladung zum Verweilen, zum Erkunden, zum Verstehen, zum Austauschen und zum Kennenlernen.
Die Analoge Stadt ist für 100 Tage eine inszenierte und geförderte Verdichtung dessen, was urbanes Leben in den Metropolen der Welt attraktiv macht. Sie ist Dialog zwischen der Kunst, den Räumen der Stadt und ihren Bürgern und Besuchern. Sie ist ein Abgleich der Anforderungen, die kreatives Nutzungen und Ideen an die Stadt haben, und umgekehrt der Bereitschaft der städtischen Bürger, sich auf kreative Prozesse einzulassen und in neuen Ideen Perspektiven für die Stadt zu erkennen.
Sie kann und soll ein Test daraufhin sein, in welchem Umfang es gelingt, den urbanen Mechanismus der Wiederbelebung verfallender Quartiere durch kreatives Wirtschaften bis hin zu steigender Nachfrage nach Immobilien gezielt auch in der Provinz anzuschieben (positive Gentrifizierung). Sie kann und soll ein Test auf die soziale Funktion von Kunst sein: Kunst und Kultur als Kristallisationskeim für die Belebung, Verjüngung und Aktivierung unsere Kleinstädte.
Die Quinquennale Analoge Stadt ist konzipiert als internationaler und urbaner Kunstdialog in Arnstadt, aber in und für die gesamte Metropolregion Erfurt und Mitteldeutschland. Die Veranstaltung ist in dieser Form ohne Vorbild. Das bietet nicht nur die Chance einer internationalen Berichterstattung in den Leitmedien der Welt, sondern qualifiziert sie auch als soziologischen und urbanistisches Forschungsprojekt, wie wir in den kommenden Jahrzehnten mit den demoskopischen, sozialen und kulturellen Verschiebungen umgehen können und müssen, um unsere Städte als das zu bewahrten, was sie Jahrhunderte lang waren: Kristallisationskeime von Humanismus, Aufklärung und Toleranz, kurz: der Bürgergesellschaft.
Da die Bürger der Stadt in Planung und Durchführung früh einzubeziehen wären, in nicht geringer Anzahl an der Veranstaltung mitwirken würden und die Händler, Hotels, Gaststätten und Einzelhändler – ja jeder Bürger, der ein Bett zu vermieten hat – unmittelbar von der Quinquennale profitieren würden, ist diese Veranstaltung auch dauerhaft in der Stadt gut zu verankern. Die Quinquennale ist eine Veranstaltung mit den Bürgern der Stadt für ihre Stadt.
Das Projekt ist hier an dieser Stelle umrissen und angedacht. Die Entwicklung und Projektierung dieses internationalen Dialogs in all seinen Aspekten, der Auswahl der Kuratoren und Künstler, der Präparierung der verschiedenen Immobilien und der Einrichtung eines Besucherzentrums, der stadtinternen Kommunikation und der Einbindung von Politik und Verwaltung, der Presse-, Sponsoren und Web-Arbeit, der Wegeleitsystem und des Corporate Designs verlangt eine Konzertierung auf kommunaler und Landesebene und eine professionelle Projektplanung über einen Zeitraum von mehreren Jahren.
5 Gedanken zu „Quinquennale Analoge Stadt Leben in die Provinz!“