Rekonstruktion bedeutet Zerstörung David Chipperfield
Ein Essay über deutsche Denkmalpflege und Baukultur
Ausgerechnet in Deutschland und ausgerechnet inmitten der ehemaligen preußischen Hauptstadt ist ein über fünfzig Jahre bis zur piranesischen Ruine verfallenes klassizistisches Gebäude in einer Weise restauriert worden, die Maßstäbe setzt für den Umgang mit historischer Bausubstanz.
Deutsche Denkmalpfleger, Restauratoren, Architekten, Baustofflieferanten, Handwerker, Kirchenvereine und Bauherren, besucht das Neuen Museum in Berlin und lest die unglaubliche Geschichte seiner Wiedergeburt, der größten archäologischen Ausgrabung, die jemals an einem einzelnen Gebäude durchgeführt wurde.
Nie zuvor habe ich deutlicher begriffen, warum das, was in Deutschland bis heute unter „Sanierung“ firmiert, so oft Zerstörung bedeutet – von Originalsubstanz und Geschichte, von Schönheit und Lebensqualität –, und warum nichts so schön und anrührend ist wie das Fragment.
Architektur kann Herzklopfen verursachen. Das erste Mal ist mir das im Winter 1993 in Venedig widerfahren. Von Palestrina kommend fuhren wir mit dem Vaporetto an einem nebeligen Abend in den Canal Grande ein und erlebten ein Schauspiel aus dem Nichts auftauchender Kulissen, Lichter und Palazzi, das so irreal war, dass ich in den folgenden zehn Jahren jede freie Minute in Venedig verbringen mußte – immer fotografierend auf der Suche nach dem Geheimnis dieser wunderbaren Stadt.
Einundzwanzig Jahre später, im November 2014, ging es mir wieder so. Ich besuchte erstmalig das zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren wiedereröffnete Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel, Nofretetes neuer Heimstadt. Ich hatte im Feuilleton einer großen Tageszeitung von diesem Projekt gelesen und ein Foto abgedruckt gesehen, das sich tief in mein fotografisches Gedächtnis eingeprägt hatte:
Es zeigte eine riesige Treppenhalle mit rohen unverputzten Ziegelwänden und rudimentären Putzfragmenten – als Endzustand einer 11 Jahre dauernden Sanierung! Das wollte ich sehen. Inzwischen nutze ich möglichst jeden Berlinaufenthalt für einen Besuch in diesem Gebäude.
Denn dieses Museum ist mir Wunder und Offenbarung zugleich.
Ein Wunder, dass so ein Umgang mit historischer Bausubstanz in Deutschland möglich ist, und eine Offenbarung, was für Schönheiten, Einblicke, Assoziationen und Perspektiven sich durch diese restauratorische Herangehensweise eröffnen!
Als in München aufgewachsener und dort sozialisierter italophiler Preussenverächter hatte ich vielleicht vom Pergamon-Altar gehört, aber ich wußte nichts – ich gestehe es zu meiner Schande – von einer Berliner Museumsinsel oder dem im Krieg zerstörten Museum Friedrich August Stülers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Ab dem Jahr 2005, mit unserem Umzug nach Thüringen und mit dem Kauf zweier sanierungsbedürftiger Gebäude – einem Fachwerkhaus von 1582 und einem Industriegebäude von 1905 – begann sich das zu ändern.
Wir schauten nun mehr nach Norden und Osten und wir interessierten uns zunehmend auch für alte deutsche Gemäuer.
Und wir befassten uns mit sämtlichen Fragen der Gebäudesanierung, von der Statik über das Farbenspiel von Backsteinen bis zum Brandschutz und von der öffentlichen Ausschreibung nach VOB bis zur Befreiung der Handwerker aus der Haftung wegen unverständlicher, weil nicht DIN-gerechter Sonderwünsche des Bauherren. Bauen und Sanieren ist bis heute unser Alltag.
Moderne in Deutschland: ein Kampfbegriff gegen historische Architektur
Dabei wurde uns eines klar: Deutschland ist im internationalen Vergleich mit vielen Ländern Europas und Teilen der USA ein seltsamer Sonderfall in Sachen Bauen im Bestand. Aus Italien, Frankreich, Holland und Belgien und von der Nordostküste der USA wissen wir aus eigener Anschauung, nach England, Polen oder Skandinavien reisende Freunde bestätigen auch für diese Länder:
Wer dort ein Haus baut, ein Dach wieder eindeckt, ein Bad erneuert oder eine Fassade streicht, tut dies in der Regel und gerne mit den traditionellen Baumaterialien, Techniken, Formen und Farben seiner Väter und Großväter – und in der gelassenen Gewissheit, dass die Dinge auch – und gerade – schön sein können, wenn Sie nicht perfekt sind.
Alte Baumaterialien, Dachziegel, Fließen oder Balken werden, wie seit Jahrhunderten, gesammelt, um sie wiederzuverwenden, und nach wie vor produziert.
In diesen Ländern ist ein verfallendes Haus auch kein „Schandfleck“, der dringend entsorgt werden muss, sondern ein verfallendes Haus. Hier herrscht ein gewisser Grundrespekt vor der Geschichte eines Gebäudes und den lokalen Bautraditionen.
Böden, die knarzen, einfachverglaste Fenster, alte Waschtisch-Armaturen, schiefe Wände oder fleckige Putze sind hier kein Makel. Und solange die deutsche Bauindustrie nicht in diese Baukulturen eindringt, kommt auch niemand auf die Idee, sein Haus mit hochglänzenden knallroten oder gar blauen Hitech-Dachpfannen einzudecken, eine geklinkerte Gründerzeitfassade mit einem Wärmedämm-Verputzsystem zu verkleiden oder alte Dielen rauszureißen, weil sie sich angeblich nicht gut wischen lassen.
Gipskarton und Trockenbau: Schnellentsorgung deutscher Geschichte
Die Gipskartonplatte wurde laut Wikipedia in den USA erfunden, wahrscheinlich ebenso die abgehängte Decke und das Laminat. Aber nirgendwo erscheint mir der Siegeszug dieses Triumvirats so wütend gegen die eigene Baugeschichte gerichtet wie in Deutschland.
Denn hinter Trockenbau verschwindet nicht nur Bausubstanz bis zur völligen Austauschbarkeit der Räume als reine Kubatur, sondern mit ihr auch Handwerk und Tradition. Deutsche Geschichte, problematische Geschichte. Nirgendwo kann man die so billig, überzeugend und schnell loswerden wie beim Trockenbau.
Abstraktionen verwirklichen heißt Wirklichkeit zerstören, erkannte Hegel.
Wie recht er hat, kann man auch hier studieren: Trockenbau ist die Verwirklichung der Abstraktion von Wand als Raumtrennung – ohne Material und Masse, ohne Charakter und Oberfläche, ohne Schallschutz, ohne Wärmespeicherung und ohne Dauerhaftigkeit. Trockenbau ist Wand, ohne wirklich Wand zu sein, und somit die Mißachtung dessen, was einen Raum charakterisiert und lebenswert macht. Dafür aber ist der Gipskarton wirklich senkrecht, eben, glatt und sauber. In anderen Worten: deutsch.
Man könnte auch sagen: preußisch und protestantisch. Womit wir wieder in Berlin wären.
Chipperfields Neues Museum ist das undeutscheste aller deutschen Museen
(Jürgen Tietz in der NZZ vom 2.3.2009)
Dort hat sich nach der Wende die Stiftung Preußischer Kulturbesitz dankenswerterweise sehr viel Zeit gelassen, bis sie gegenüber der letzten noch nicht wieder hergestellten großen Kriegsruine der Stadt eine denkmalpflegerische Haltung gefunden hat. Erst 1999, zehn Jahre nach der Wende, beauftragte sie den englischen Architekten David Chipperfield, das Neue Museum in seinem fragmentarischen Zustand zu erhalten, zu ergänzen und auf diese Weise wiederherzustellen.
Gewollt war weder eine Rekonstruktion des Originalzustandes des klassizistischen Museums, das einst seine Besucher mittels prächtig ausgestatteter Räume und Höfe durch die Kulturgeschichte der Menschheit führte, noch die Befestigung (Chipperfield: „Monumentalisierung“) der Ruine als drapierende Ergänzung eines exhibitionistischen Neubaus.
Gewollt war das, was schon John Ruskin (1819-1900) und Georg Dehio (1850-1932) als denkmalpflegerisches Leitbild formulierten und was in der Charta von Venedig 1964 als internationales Übereinkommen von Architekten und Denkmalpflegern fixiert wurde: das Konservieren des Vorhandenen geht vor der Rekonstruktion des Verlorenen, der Erhalt der Fragmente vor der Wiedererscheinung des Ganzen, das Nebeneinander verschiedener Fassungen – die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ – vor der Einheitlichkeit der Gestaltung.
Kurz: die Originalität vor einer wie auch immer rekonstruierten Idealität.
So selbstverständlich diese Grundsätze klingen mögen: Die allgemeine Faszination über das zweite Leben des Neuen Museums in Berlin und die Begeisterung über das, was Chipperfield und sein Team hier geleistet haben, ist auch ein indirekter Beweis dafür, wie wenig diese restauratorischen Grundsätze bis heute in der deutschen Denkmalpflege wirklich verwurzelt sind.
Denn was seit über hundert Jahren erkannt und seit über fünfzig Jahren vereinbart ist, ist in Deutschland – einzelner Ausnahmen zum Trotz – noch nicht angekommen. Hier ist bis heute das „Wiedererstrahlen in neuem/altem Glanze“ die liebste Stereotype der Restauratoren, Denkmalpfleger und Journalisten. In anderen Worten: die möglichst perfekte Entfernung aller Spuren des Alters und des Gebrauchs gelten als Inbegriff gelungener denkmalpflegerischer Sanierung.
Germanien kann so schwerelos sein!
(Dieter Bartetzko)
Die deutschen Architekturkritiker und Feuilletonisten wissen das, wenn sie das Neue Museum als das „undeutscheste aller deutschen Museen“ bezeichnen (Jürgen Tietz in der NZZ), sich über dessen ungermanische Leichtigkeit begeistern (Dieter Bartetzko in der FAZ vom 15.10.2009) oder, wie Heinrich Wefing in der ZEIT feststellen, Chipperfield widerspeche „dem Impuls, erst einmal Ordnung zu schaffen, durchzuwischen und überall frisch zu streichen.“ (ZEIT vom 26.2.2009).
Aber weiter, zu einer Kritik der deutschen Denkmal- und Baukultur, kommt es selten. Warum nur ist Deutschland so?
Warum sagt niemand laut, was deutsche Restauratoren schaffen, wenn sie ein 250 Jahre altes Schloss wie Sanssouci durchsanieren nach der Devise: Alles muß in neuem Glanz erstrahlen!? Sie schaffen Disneyland aus originaler Substanz!
Warum wundert sich niemand, wenn in franziskanischen Kirchen aus dem 13. Jahrhundert wie in der Oberkirche in thüringischen Arnstadt gotische Medaillon-Malereien, Putz- und Fassungsfragmente aus der Renaissance und Scraffities der Kirchenbesucher aus dem 19. Jahrhundert überstrichen werden, um eine „einheitliche Fassung“ zu erzielen und den Innenraum „zu beruhigen“?
Warum teilt niemand den Bauherren historischer Gebäude im unseren Innenstädten mit, dass mit strahlend kaltem Titanweiss gestrichene Fenster in keiner Fassade, sei sie barock oder gründerzeitlich, etwas verloren haben?
Warum weist niemand den Dachziegelhersteller, der so stolz ist auf die trostlose Einförmigkeit seiner Produkte, darauf hin, dass ein mit seinen Dachpfannen eingedecktes Gebäude ausschaut wie ein überdimensionales Faller-Häuschen aus der Spielzeugeisenbahn, weil ihm jegliches Farbenspiel fehlt?
Man wähnt sich in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert – vor Christus
(Hanno Rauterberg in der ZEIT vom 6.10.2009)
Dass Restaurieren tatsächlich als erstes Ziel nur das Reinigen, Erhalten, Konservieren, Stabilisieren, Ergänzen oder Replazieren umfasse, bedeutet auch bereit zu sein, das Erscheinungsbild des Ganzen vom Fragmentarischen aus zu denken: Putz- und Stuckreste auf rohem Mauerwerk als Putz- und Stuckreste stehen zu lassen, Spuren des Verfalls durch jahrzehntelang eindringendes Witterung nicht (komplett) verbergen und Spuren der Zerstörung, wie von Granatensplittern gerissenen Löcher, nicht (alle) schließen zu wollen.
David Chipperfield, sein Partner Julian Harrap und ein aus hunderten von Handwerkern, Restauratoren und wissenschaftlichen Spezialisten bestehendes Team waren dazu entschlossen. Sie haben sich der Ihnen anvertraute Ruine in derselben Art und Weise genähert wie ein archäologisches Team bei einer Ausgrabung einer antiken Stadt. Mit dem Pinsel, der Bürste, dem Mikroskop und dem Skalpell.
Denn aus dieser, der Charta von Venedig entsprechenden Haltung heraus gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Pompeji und einer im Bombenkrieg zerstörten Ruine des 19. Jahrhunderts. Das ist die erste Erkenntnis, die uns das neue Neue Museum vermittelt.
Alles, was sie noch fanden, hatte seinen Wert, und alles war schön. Diese Schönheit erfahrbar zu machen war das Ziel – und die Herausforderung. Denn denkmalpflegerische Lösungen, die nicht auch ästhetisch befriedigen, sind keine Lösungen. Das ist die zweite Erkenntnis.
Denn bei allem Respekt vor dem Fragment erforderte jeder Raum eigene und neue Ideen, wie mit diesen Fragmenten ästhetisch umzugehen sei, wie man aus einem Haufen Scherben einen ästhetisch geschlossenen Raumeindruck erzeugt.
Die Planer ließen sich leiten, von Fragmenten und Verlusten, Vorschlägen der Restauratoren und Befunden der Statiker, Computer-Simulationen, Musterachsen und Versuchen, Beratungen und Begehungen. Die Wiederherstellung der Räume des Neuen Museums kannte keinen Masterplan. Sie ist das Resultat eines respektvollen Dialogs mit dem Gebäude selbst und den Ideen Friedrich August Stülers, mit seiner Geschichte und mit allen Beteiligten.
Chipperfields Entwurf gab lediglich die Richtung vor. Seine eigentliche Leistung war es zuzuhören. Vielleicht ist es letztlich das, was dieses Gebäude so einmalig macht.
Dieses Haus ist Berlins kostbarster archäologischer Schatz
(Ira Mazzoni in der deutschen bauzeitung / 1.4.2009)
Denn die ästhetischen Lösungen, die auf diesem Wege für die Wiedererweckung des Neuen Museums gefunden wurden, sind so spektakulär gelungen, dass nicht nur die kritischen Stimmen verstummt sind. Chipperfields restauratorische Konzeption wird zur wegweisenden Vorbild werden für die Wiederherstellung beschädigter Gebäude auf der ganzen Welt.
Vielleicht sogar in Deutschland.
Das will was heißen. Denn mit dieser Konzeption und Vorgehensweise hätten Bauherren, Planer und Restauratoren nicht nur akzeptiert, dass im Umgang mit mit unseren Häusern und Städten, Schlössern und Kirchen die „Zeit der glänzenden Oberflächlichkeiten“ (Ira Mazzoni) vorbei ist.
Sie hätten auch verstanden, dass das endgültige Resultat einer Sanierung in den Computern und auf den Plantischen nicht komplett vorgezeichnet sein kann, sondern sich erst aus einem andauernden Dialog mit dem Gebäude und seiner Geschichte, seinen Erhaltungszuständen und Fassungsresten nach und nach herausschälen wird.
This probably was the world’s biggest-ever Humpty Dumpty project.
(Michael Kimmelman in der New York Times vom 11.3.2009)
Das Museum, mit dessen Bau der preussische König Friedrich Wilhelm IV. den Architekten und Schinckel-Schüler Friedrich August Stüler 1841 beauftragt hatte, war das zweite Museum auf der Museumsinsel gegenüber dem Stadtschloss der Hohenzollern, das deshalb auch von Anbeginn an das „Neue“ genannt wurde.
Stüler baute ein nach außen relativ unspektakuläres Gebäude, dass jedoch im Innern mit seiner Vielzahl unterschiedlicher Mosaik- und Terrazzoböden, komplizierter Putz- und Wandfassungstechniken, Tapisserien und Reliefs, Säulen und Gewölbekonstruktionen die Besucher ins Staunen versetzen sollte. Er verwendete für die damalige Zeit neue Bautechniken, wie tragende Deckenkonstruktionen aus Stahl oder Flachtonnengewölbe aus hohlen Tontöpfen. Das Neue Museum Stülers war auch eine Leistungsschau dessen, was die Architektur, die Gebäudeausstattung und die Kunst des 19. Jahrhunderts zu leisten vermochte – unterschieden von Raum zu Raum.
Das Museum aber, das Chipperfield 1999 vorfand, war eine veritable Ruine. Nur in wenigen Räumen hatte originale Ausstattung die Nachkriegszeit und die DDR provisorisch überdacht halbwegs überlebt; in anderen existierten nur noch Fragmente von Fresken, Deckenmalereien oder Terrazzoböden; ganze Hallen und Höfe – wie die einst von Wilhelm von Kaulbach mit riesigen historisierenden Wandgemälden ausgestatteten zentralen Treppenhalle –, hatten nichts mehr vorzuweisen außer ihrem rohem Mauerwerk. 50 Jahre Regen und Frost leisteten ganze Arbeit.
Hinzu kam, dass gut ein Drittel des Gebäudes, ein kompletter Flügel im Nordwesten und ein sogenannter Risalit, ein Gebäudevorsprung im Südosten, überhaupt nicht mehr existierten. Sie waren eingestürzt.
Chipperfields Vorschlag war, diese fehlenden Gebäudeteile in der alten Kubatur und mit in Größe und Farbe passenden historischen Ziegelsteinen wieder aufzubauen. Diese Ergänzungen bleiben als moderne Hinzufügungen unverputzt sichtbar, ordnen sich jedoch in der Fassade, im Raster der Fenster und der Dachform der ursprünglichen Formgebung des Gebäudes unter.
So fand auch hier Rekonstruktion statt. Aber eine Rekonstruktion des Rohbaus, nicht seiner klassizistischen Verkleidung. Eine Rekonstruktion, die in ihrer betonten Rohheit der Wiedererkennbarkeit des Originalen, seiner Geschichte und seiner Zerbrechlichkeit dient.
Genau so sind Chipperfield und Harrap auch im Inneren verfahren: ausgehend von einer respektvollen und konservierenden Grundhaltung finden sich auch dort Rekonstruktionen, der Terrazzoböden und Mosaike zum Beispiel oder der Gewölbe. Eher in den handwerklich-technischen Gewerken als in den künstlerischen, immer auch ästhetisch entschieden, nie rein methodologisch oder dogmatisch. Die Grenzen sind fließend. Was bleibt ist, dass das architektonische Konzept bis in die Pigmentierung der Füllputze reicht. Die Restaurierung ist bis ins Detail ein kreativer Akt des Architekten und keine Entscheidung mehr der ausführenden Restauratoren.
Man kann nicht so tun als sei nichts geschehen
(David Chipperfield)
Die Aquarelle und Zeichnungen, die uns vom Stülerschen Museum aus dem Jahre 1860 überliefert sind, zeigen uns ein wunderschönes Museum mit Rekonstruktionen ägyptischer Innenhöfe und Grabanlagen, Säulenhallen und Wandmalereien, römische Mosaiken und Veduten, Friesen und Karyatiden.
Im modernen Sinne handelte es sich gar nicht um ein Museum, das Exponate präsentierte, sondern mehr um ein Panoptikum, das einen in fremde vergangene Welten entführte. Heute erzeugen wir ähnliche Welten digital in 3D.
Darf, kann, soll, muß man es wieder aufbauen? War das Neue Museum ein Monument wie die Dresdner Liebfrauenkirche, mit der sich eine ganz Stadt identifizierte und deren Fehlen beim täglichen Blick über die Elbe schmerzte?
Wenn wir alte Gebäude aus vergangenen Jahrhunderten und Kulturen pflegen, können wir sie dann nicht auch wieder aufbauen, sofern wir die originalen Pläne und die Fertigkeiten dazu haben, und vieles noch erhalten ist?
Ja, man könnte es wieder aufbauen. Aber man muß es nicht.
Das neue Neue Museum in Berlin zeigt, dass durch die intensive Auseinandersetzung des Bauherren und der Planer mit dem Gebäude etwas neues, spannendes, extrem modernes entstanden ist, das den Respekt vor dem Alten und Überlieferten mit unserer postmodernen Sehnsucht nach dem Einfachen, Authentischen und Archaischem vereint.
„Mr. Chipperfield’s museum is a modern building that inhabits the ghost of an old one“, schrieb Michael Kimmelman. Zugleich aber ist das Moderne auch wieder rückwärtsgewandt, denn nicht zufällig hat Chipperfield sich gegen die ehemalige schmückende und krönende Korenhalle in der Treppenhalle entschieden und dieser ein Dach aufgesetzt, das mit seinem dunklen offenen Dachstuhl an eine romanische Basilika erinnert. Seine Treppenhalle ist nicht prächtig, sondern sakral.
Ist das ein Wunder, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die Moderne an der Formensprache der arabisch-afrikanischen Baukunst ebenso inspiriert wie an Formen und Materialität des Mittelalters? Es war eben immer alles schon mal da, wir kombinieren es nur immer wieder neu. Zum Beispiel so wie im Neuen Museum.
Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob David Chipperfield und seinem Team jedes Detail in der Abwägung zwischen Wiederherstellung, Neugestaltung und Konservierung perfekt gelungen ist.
Es spielt auch keine Rolle, wie sehr der Besucher des Museums bereit ist, sich auf dessen ganz besondere Geschichte oder das restauratorische Konzept einzulassen.
Es genügt, dass jeder, der durch diese Räume schreitet, unweigerlich erlebt, was er sonst in keinem anderen Museum erleben kann:
Ein Nebeneinander von faszinierenden Kunstwerken aus fünf Jahrtausenden Menschheitsgeschichte, ein zerbrochene Ästhetik des aufstrebenden Deutschlands des 19. Jahrhunderts, und die Rückbesinnung auf die Schönheit des Fragments und die Schlichtheit einer unverputzten Backsteinwand.
Dieter Bartetzko, Architekturkritiker der FAZ, hat es von allen am schönsten gesagt:
Chipperfields Bau ist dagegen der verhüllte Lazarus, der seine Invalidität nicht leugnet, aber mit durchscheinenden Tüchern mildert. Wer Augen hat zu sehen, erkennt sie. So kann Berlin und Deutschland seinen Frieden mit sich und der jüngeren Vergangenheit machen. „Nichts Staunlicheres als der Mensch“, steht im Niobidensaal zu lesen. Keine Zeit löscht diese Schrift.
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Artikel über das Neue Museum in Berlin:
Dieter Bartezko:
http://www.faz.net/neues-museum-berlin-die-schrift-an-der-wand-1573397.html
Dankwart Guratzsch:
http://www.welt.de/kultur/article3284031/Berlin-und-sein-zusammengeklebter-Truemmerrest.html
Kristian Ludwig:
http://www.stadtbild-berlin.de/archiv.html?page=13
Michael Kimmelmann:
http://www.nytimes.com/2009/03/12/arts/design/12abroad.html?_r=4&
Ira Mazzoni:
http://www.db-bauzeitung.de/aktuell/diskurs/sensationelle-expedition-ins-museale-zeitalter/
Hanno Rauterberg:
http://www.zeit.de/2009/42/Museumsinsel
Jürgen Tietz:
http://www.nzz.ch/die-ganzheit-des-fragments-1.2122471
Heinrich Wefing:
http://www.zeit.de/2009/10/Neues-Museum
Lieber Herr Kobel, schönen dank für die vielen schönen Informationen!!! Ihr Wolf Müller
übrigens: das Buch zur Sanierung mit zahlreichen Aufsätzen vieler Beteiligten gibt es im Museumsladen für lächerliche 15,00 €!