Die große Retrospektive des Fotografen Arnold Odermatt in der Kunsthalle Erfurt
Arnold Odermatt wurde 1925 im Schweizer Kanton Nidwalden geboren und arbeitete zeit seines Berufslebens als Verkehrspolizist. Die seiner Profession zugehörige Aufgabe der Dokumentation von Unfällen nahm Odermatt allerdings so ernst, dass seine Bilder 2001 auf der Biennale in Venedig ausgestellt wurden. Seitdem diskutiert die Kunstwelt von Winterthur bis Chicago, wie es wohl sein könne, dass ein Polizist in der Ausübung seines Amtes Kunst schafft, obwohl er dies – nach eigener Aussage – gar nicht beabsichtigt habe.
Die Kunsthalle am Erfurter Fischmarkt zeigt mit 180 Fotografien eine umfangreiche Ausstellung von Arnold Odermatts fotografischem Werk, das neben den Karambolagen – den Verkehrsunfällen auf den Straßen des Kantons – auch Szenen des privaten Lebens, des Polizeidienstes und schöne Landschaftsfotografie umfasst. Die Unfallfotos jedoch stechen auf eine ganz besondere Weise heraus aus diesem Lebenswerk.
Odermatt war, darin ganz Schweizer und Polizist, äußerst gewissenhaft und sorgfältig. Das Fotografieren hatte er sich selbst beigebracht, und zwar mit dem unerschütterlichen Anspruch, fachlich saubere Arbeit abzuliefern: gestochen scharf, auf das Wesentliche fokussierend und gut gestaltet in Sachen Ausschnitt, Blickwinkel, Brennweite, Hintergrund und Details. Das beherrschte er so gut, dass diese analog erzeugten Bilder in ihrer Mischung aus Wohlkomponiertheit und versteckter Ironie bis heute faszinieren.
Der Fotograf Arnold Odermatt, das spürt man sofort, überläßt nichts dem Zufall. Jedes Detail seiner Bilder ist inszeniert und arrangiert, Zufall oder Spontaneität haben hier wenig zu sagen, Kontrolle ist alles. Hier unterscheidet er sich fundamental von seinem schweizerischen Zeitgenossen Robert Frank, der mit seiner berühmten fotografischen Reportage The Americans im Flüchtigen das Typische suchte und der als Fotograf am liebsten unsichtbar gewesen wäre. Arnold Odermatt aber fotografierte, wie Schweizer Bürokraten Akten anlegen: als Perfektionist.
Odermatt räumt auf
Die spannende Frage lautet: Wie geht ein Fotograf, der so arbeitet, mit der Thematik Verkehrsunfall um, die sich dieser Haltung diametral versperrt. Denn hier herrschen Chaos, Katastrophe und Unberechenbarkeit, und es plant nur einer: der Zufall.
Die Antwort lautet als erstes: Odermatt räumt auf.
Die Karambolagen sind Fotografien aus den 50er bis 80er Jahren. Sie zeigen Autos, die noch keine versteiften Fahrgastzelle und keinen Airbag kannten und oft noch nicht mal einen Sicherheitsgurt. Die auf den Fotografien sichtbare Zerstörung geben Gewissheit, dass hier, vor der Belichtung, Schwerverletzte und Tote aus dem Auto gezogen oder dem Blech geschnitten wurden.
Davon aber, von den Opfern, sieht man bei Odermatt nichts. Auch Spuren der Verletzten, sei es Blut oder Persönliches, findet sich nicht, ebenso wenig Sanitäter oder Ärzte. Die einzigen Menschen, die der Fotograf mit seinen Unfallbildern – wenn überhaupt – abbildet, sind Schaulustige am Straßenrand. Unbeteiligte. Zuschauer eines Spektakels.
Odermatt inszeniert das Nicht-Inszenierbare
Die unmittelbar in den Unfall Verwickelten, Emotionen wie Verzweiflung oder Schmerz will Odermatt nicht auf seinen Fotos haben. Ihn interessiert das Wrack als Resultat eines Vorganges, der durch diese Landschaft bewirkt wurde und der in ihr einschneidende Spuren hinterlassen hat. Seine Fotos wirken, als ergänzten die von ihm vorgefundenen zerstörten Autos diese Landschaft wie die Open-Air-Installation eines zeitgenössischen Künstlers.
Der Fotograf besteht darauf, dass seine Unfälle Teil der Landschaft sind, in der sie stattfinden. Er komponiert seine Bilder so, dass sie erscheinen, als sei nichts mehr dem Zufall geschuldet. Entscheidend dafür ist vor allem die Perspektive, die er wählt. Der Polizist und Schweizer Odermatt bezwingt das Chaos durch die Perfektion seiner Fotografie. Entfernte man die Wracks aus dieser Landschaft, so beseitigte man nicht etwa Störendes. Man zerstörte eine einmalige Odermattsche Inszenierung.
Der Dadaismus des Blechschadens
Neben der formellen Perfektion der Fotografien ist es diese fast dadaistisch anmutende, trockene Abgeklärtheit, mit der Odermatt es zielsicher schafft, Verkehrsunfällen auf Schweizer Straßen mit all ihrer Brutalität so zu fotografieren, als seien sie gestaltet. Er inszeniert Unfälle als Kunstwerk. Seine Fotografie erscheint als unbeteiligte Beobachtung einer kunstvollen Szenerie, die in Wirklichkeit erst durch diese Fotografie entsteht. Das ist nicht nur Kunst, das ist genial.
Dazu passt, dass Arnold Odermatt selbst stets beteuerte, er haben keine Kunst, sondern immer nur „gute Fotografie“ machen wollen. Das mag schon sein. Durch die Komposition seiner Belichtungen jedoch gelang es ihm, seinen Bildern multiple Bedeutungsebenen einzuschreiben, die den Blick des Betrachters halten – und ihn nach Gründen suchen lassen, warum. So funktioniert Kunst.
Denn was Kunst ist, entscheidet sich nicht daran, was der Künstler über sich denkt, auch nicht darüber, was der Kunstmarkt von einem Künstler hält. Es entscheidet sich alleine an der Kraft eines Bildes, uns eine Welt vorstellig zu machen, die mehr ist als das, was wir sehen.
Vielleicht hat Arnold Odermatt nicht für den Kunstmarkt fotografiert, aber er war ein Fotograf, der genau wußte was er tat. Der abgeklärte und ironische Sarkasmus jener Schweizer, die 1916 in Zürich den Dadaismus ausgerufen hatten als Antwort auf Krieg und Zerstörung, er muss auch ihm im Nacken gesessen sein.
// Die Ausstellung in der Kunsthalle Erfurt ist noch zu sehen bis zum 26. April 2020
// Kurator der Ausstellung : Daniel Blochwitz / Zürich
// Arnold Odermatt wird vertreten durch die Galerie Springer in Berlin:
https://www.galeriespringer.de