Es ist wie immer alles anders als wir denken
// Mit dem Entdecken des eigenen Landes, im nahen wie im fernen, stirbt meist nicht nur ein Haufen dummer Vorurteile. Das Erkunden fremder Regionen und das Erspüren ihrer Unterschiede dient auch dem: zu begreifen, wie sehr wir alle bis heute durch die Erfahrungen unserer Vorfahren geprägt sind. Das kann ziemlich spannend sein. Das Erzgebirge, eine der dynamischsten Regionen des Ostens, war uns soeben erst ein besonders gutes Beispiel für beides.
Titelbild: Weihnachtsschmuck à la Erzgebirge, gesehen in Stollberg
Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme ursprünglich aus München, einer Stadt, die sich selbst natürlich für den Mittelpunkt der Welt hält, und von der aus man gerne nach Süden schaut, gelegentlich nach Norden oder Westen, ganz selten aber in den Osten. Wer in München erzählt, er fahre ins Erzgebirge, zum Beispiel nach Chemnitz und nach Schneeberg, um dort Urlaub zu machen, gut zu essen und Ausstellungen zu besuchen, gilt als Scherzkeks. Erzgebirge?! Chemnitz?! Hallo?!
Nein, dieser Artikel soll kein Wessi-bashing werden, und auch kein Schönreden einer Region, in der die völkischen Angstmacher für Deutschland an die 30 Prozent erzielen.
Es geht darum, anhand eines kleinen 36-Stunden-Ausflugs, der uns stark beeindruckt hat, exemplarisch nachzuvollziehen, warum der Osten Deutschlands immer wieder und überall ein vor Überraschungen überquellendes Land ist. In diesem Fall das südwestliche Sachsen.
Es begann mit dem Arnstadtbesuch Zweier aus dem Erzgebirge, Nils Bergbauer und Lars Rosenkranz, beide Handschuhmacher, einer langjährig Pressefotograf, heute Koch. Sie interessierten sich für unsere Handschuhfabrik und die Arnstädter Geschichte der Handschuhmacherei, Nils nahm am hiesigen Bach-Advent teil, wo seine handgefertigte Handschuhe auf großes Interesse stießen, und luden uns in der Folge nach Schneeberg ein, wo die beiden neben der Handschuhmacherei noch ein Restaurant betreiben und eine Ferienwohnung vermieten. Schneeberg im Erzgebirge. Ich hatte noch nie von diesem Ort gehört und keine Ahnung, was uns erwartete.
Nils hatte uns bereits beeindruckt. Er führt nicht nur erfolgreich zwei Unternehmen, sondern bildet auch aus. Zum Beispiel Nasim aus Afghanistan, der als Kind vor den Taliban fliehen mußte und seine gesamte Familie verloren hatte. Nach drei Jahren „Lehre“ unter Nils Fittiche ward er zum profunden Handschuhmacher. „Lehre“ in Anführungszeichen, denn den Lehrberuf Handschuhmacher gibt es nicht mehr, ebensowenig eine Innung oder eine Meisterprüfung. Ausgestorbenes Handwerk eben. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass es dergleichen natürlich geben muss. Ein Missstand ausgerechnet überall dort, wo in Deutschland altes Handwerk wiederbelebt wird.
Dass Nils Bergauer, Jahrgang ’87, den Zustand der Abschlusslosigkeit seines Lehrlings nicht hinnehmen will, und seitdem unnachgiebig gegenüber der Handwerkskammer seines Landes Vorschläge macht, wie die Meisterfreisprechung für die Handschuhmacherei wieder einzuführen sei, war das nächste, was uns aufhorchen ließ. Hier hat einer noch was vor. Wir beschlossen, seiner Einladung zu folgen und uns das Erzgebirge einmal genauer anzuschauen.
500 Jahre Bergbau oder wie das Sein das Bewusstsein bestimmt
Was wir wußten: über Jahrhunderte eine Region, in der Erze abgebaut wurden, Zinn, Silber, Eisen, Kobalt, zuletzt Uran. Großes Geschäft, Quelle des sächsischen Reichtums, Ursprünge der kapitalistischen Akkumulation. Viele kleine Orte mit viel Industriekultur aus der Gründerzeit, vor allem Textilindustrie, bis heute ein starker Standort mittelständischer Industrie.
Obwohl verantwortungslose Bürgermeister und Landräte bis heute immer noch Abrisse von Industriearchitekturen genehmigen, bloß weil es dafür immer noch (absurderweise) Fördermittel des Bundes gibt, stehen immer noch zahlreiche dieser wunderbaren Industrieschlösser und Loftpaläste in dieser Region – so dicht wie sonst nur vielleicht in Berlin oder im Ruhrgebiet. Sachsen hat(te?) tausende davon, Spinnereien, Webereien, Spielzeugfabriken, Fahrzeug- und Maschinenfabriken, Fabriken für Haushaltswaren aller Art, bisweilen die ältesten und größten in Deutschland. Unter Industriekultur-Ost, einer ehrenamtliche Initiative junger Sachsen, kann man sich davon ein Bild machen.
2020 ist in Sachsen Jahr der Industriekultur, mit einer Landesausstellung an verschiedenen Standorten. Einer davon: Crimmitschau, unsere erste Station. Dort steht bis heute eine Textilfabrik-Anlagen, die von der Spinnerei des Garnes bis zum fertigen Tuch sämtliche Produktionsschritte an historischen Maschinen erlebbar macht.
Silvia Schumann vom Textilmuseum erklärt, wie sie funktioniert
Boom! 500 Jahre Industriekultur überschreiben die Sachsen ihre Landesausstellung, die vom 25. April bis zum 1. November 2020 im Audi-Bau in Zwickau sowie, neben Crimmitschau, noch an fünf weiteren Schauplätzen in Südwestsachsen stattfinden wird. Sie umschreiben damit einen Prozess, der bereits mit dem Bergbau der Renaissance eingesetzt hat. Eine Besonderheit in Mitteleuropa. Auch wenn hier seit gut 100 Jahren (mit Ausnahmen der Wismut zu DDR-Zeiten) kein Bergbau mehr betrieben wird, ist diese Geschichte heute überall gegenwärtig. Nicht nur durch das Glückauf, mit dem sich die Menschen dort tatsächlich begrüßen. (siehe hierzu auch Unesco-Weltkulturerbe „Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří“)
Die deutschen Mittelgebirge waren über Jahrhunderte nur spärlich besiedelt. Steil- und Höhenlagen machten Landwirtschaft schwierig, insbesondere im kalten Erzgebirge. Der Abbau vor allem des Silbers seit dem 16. Jahrhundert ließ jedoch die Menschen in großer Zahl zuziehen. Das Resultat war eine Verdichtung, die bis heute spürbar ist. So präsentieren sich beispielsweise die Orte Aue, Schlema und Schneeberg entlang der Verkehrsachsen als eine einzige ununterbrochene Siedlungszone. Auch hierin dem Ruhrgebiet nicht unähnlich.
Doch die Bergbautradition ist in Sachsen Jahrhunderte älter als an Ruhr und Emscher. Der Zuzug in die Region war so stark, dass das gesamte Erzgebirge mit seiner spärlichen Landwirtschaft selbst nicht in der Lage war, die vielen Menschen zu ernähren. So wurde es weltweit zu einer der ersten Importregionen für landwirtschaftliche Produkte, Viehherden wurden sogar von Polen aus dorthin getrieben, Lebensmittel aus allen Ecken Europas eingeführt.
Durch all diese grenzüberschreitenden Aktivitäten und Kontakte entwickelte sich das Erzgebirge zu einer der am stärksten international vernetzten Regionen Europas. Noch 1914 ist Sachsen das Land mit dem höchsten Industrialisierungsgrad im gesamten Deutschen Reich!
Bergbau und frühe Industrialisierung bedeutete für die Menschen im Erzgebirge auch relativer Wohlstand und bevorzugte Behandlung durch die sächsische Kurfürsten. Als Schneeberg zum Beispiel vor genau 300 Jahren komplett abbrannte, wurde es mit kurfürstlicher Unterstützung aus Dresden rasch wieder aufgebaut. Irgendwo muss es ja herkommen, das außerordentliche Selbstbewußtsein dieses Menschenschlags. Der erzgebirgische Dialekt mag gewöhnungsbedürftig sein, aber provinzielle Abgeschiedenheit schaut anders aus.
Die Menschen in dieser Region hingen nicht, traditionell konservativ wie der Bauer, an der eigenen Scholle, sondern reagierten flexibel auf die Wechselfälle des Bergbaus, der ein stetes Auf und Ab bedeutete. So entstand aus der Heimarbeit arbeitslos gewordener Bergleute die Schnitz-, Weihnachts- und Spielzeugindustrie, die diese Region heute zu DER deutschen Weihnachtsregion macht.
Wer keine Arbeit hatte, schnitzte Weihnachtsschmuck
Nussknacker, Drehpyramiden, Schwibbögen, Weihnachts- und Rauchmänner, Engel und anderer Baumschmuck, alles in Handarbeit aus Holz gefertigt, ist bis heute ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Region. Nach Seiffen, dem Zentrum dieser Tradition im Osten des Erzgebirges, kamen wir zwar nicht, aber auch in Stollberg, unserer zweiten Station nach Crimmitschau, lebt diese Tradition spürbar.
Stollberg im Erzgebirge, nicht zu verwechseln mit Stolberg im Südharz. Ein gepflegter Ort mit 12.000 Einwohnern und dem vermutlich großartigstem Gymnasiumsgebäude der Welt. Das Carl-von-Bach-Gymnasium, benannt nach einem Erfinder und Maschinenbauingenieur, erbaut 1903 nicht etwa in Dresden, sondern hier, inmitten in der Provinz, als Königlich Sächsisches Lehrerseminar, ist eigentlich ein riesiges Schloss, oberhalb der Stadt wie es sich gehört in einem Schlossgarten gelegen. Da möchte ich nochmal Schüler sein!
Wir stellen fest, wie später auch in Schneeberg: Leerstand im Zentrum gibt es so gut wie nicht. Die Stadt ist nicht nur durchsaniert und rausgeputzt wie ja inzwischen fast überall im Osten, auch das Angebot des Einzelhandels ist erstaunlich hochwertig, die Menschen wirken wohlgelaunt und tragen modische Mäntel. Abgehängt ist diese Region auch heute nicht. Um AfD zu wählen, braucht es das auch nicht, wie wir längst wissen. Die Wähler dieser Partei, die von Hass und Verachtung lebt, haben ein anderes Problem. Eines mit sich.
Wir fahren weiter ins Erzgebirge hinein, und erfreuen uns über die tausendfach aus den Fenstern der Häuser leuchtenden „Schwibbögen“, die in der bergigen Region, wo man stets in die Orte hinauf oder auf sie herunter schaut, warm in die Dunkelheit leuchten.
Hier hat es Tradition, dass jede Fensterlaibung ihre eigen Steckdose hat, um die handgeschnitzten Lampenhalter zum Fenster hinaus strahlen zu lassen. Eine weihnachtliche Illumination des städtischen Raumes, die auf Buntes komplett verzichtet, bezaubernd schlicht und einheitlich und überhaupt nicht kitschig. Wir denken natürlich sofort: das brauchen wir auch!
Weihnachtsmärkte, richtig aufgestellt und konzipiert
So ist es dunkel, als wir in Schneeberg ankommen. Wegen des Weihnachtsmarktes sind wir zwar nicht gekommen, aber Markt und Fürstenplatz empfangen uns so heiter und so schön illuminiert, dass wir eine Runde drehen müssen, bevor wir uns in’s Bergauers begeben.
Märkte sind ein Thema von zunehmender touristischen Bedeutung, bei dem man vieles falsch machen, aber auch viel gewinnen kann. Wir wollen schauen, wie die Schneeberger es hinbekommen: Wie verhält sich die Stellordnung zur städtischen Bebauung? Stehen die Buden Rücken an Rücken, wie es sich gehört? Wie sind sie gestaltet, welche Qualität hat das Angebot, welche Musik in welcher Lautstärke prägt den Markt? Um es vorwegzunehmen: Sie machen alles richtig in Schneeberg. Wenig später, beim Abendessen, werden wir auch erfahren warum.
So nimmt es nicht wunder, dass sich der Ruhm der erzgebirgischen Weihnachtsmärkte weit herumgesprochen hat, und busseweise die Besucher aus anderen Bundesländern herbeigekarrt werden. Ich schaue auf die Kennzeichen, und muss schon wieder ein Vorurteil revidieren. Zwei Busse sind doch tatsächlich aus Bayern hochgefahren, aus Günzburg und – aus München. Da schau her!
Kleine Karte, wunderbares Essen, feine Weine. Ein Restaurant als kommunikative Mitte einer kleinen Stadt.
Am höchsten Punkt des zentralen Fürstenplatz gelegen, in der Alten Wache des Ortes, scheint dem Bergauers, dem Restaurant von Lars Rosenkranz und Nils Bergauer, ganz Schneeberg zu Füssen zu liegen. Verdient hätten sie es, denn nach allen vier Kriterien, nach denen man ein Restaurant beurteilen kann, gibt es Bestnoten zu verteilen: Ausstattung, Service, Küche, Weine.
Wir genießen Gänsebraten in Quittensauce mit Grünkohl und Koriander und selbstgemachten grünen Klösen, trinken einen Gelben Muskateller vom Weingut Bassermann Jordan und wünschten uns soviel Gastro-Urbanität und Professionalität auch in unserer Stadt. Warum sollte hier auch nicht funktionieren, was im nur halb so großen Schneeberg unweit der tschechischen Grenze funktioniert? Aber im Erzgebirge, das merken wir erneut, funktioniert eben manches anders. Glaubt man der lokalen Presse, ist das Bergauers in Schneeberg nur eines unter mehreren guten Restaurants.
Das Bergauers hat Donnerstag bis Montag geöffnet, was uns ganz besonders gefällt, denn die verbreitete Sitte, dass die gesamte Gastronomie eines Ortes wie synchronisiert Sonntagabend und Montag geschlossen bleibt, ist nicht nur ärgerlich für Gäste, sondern auch irrational.
Es ist Montag, nicht alle Tische sind besetzt, aber im Bergauers ist man darüber nicht unglücklich, da das Wochenende brummte. Die Preise sind angemessen angesichts dessen, dass hier alle Soßen selbst aufgesetzt und die Kartoffeln von Hand geschält werden. Die Umsätze stimmen, der Kreis der Gäste reicht bis nach Zwickau und Chemnitz.
Wir sprechen über die Industriegeschichte Schneebergs und das bedeutendste Industriedenkmal des Ortes, die ehemalige Korsettfabrik, ein ungewöhnliches Gebäude aus den Zwanzigern mit einer Mischung aus Gotik, Expressionismus und Neuer Sachlichkeit, das die Eigentümer bedauerlicherweise verfallen lassen. Wer nimmt sich endlich dieses spektakulären Gebäudes an?
Dabei lernen wir Volker Schmidt kennen, der seit den 90er Jahren in Schneeberg am Kultur- und Tourismuskonzept mitwirkte und die Stadt u.a. davon überzeugte, dass es sich lohne, schöne Marktbuden zu produzieren. Nicht nur für die Weihnachtsmärkte. Hier hat einer der Stadt eine Richtung gewiesen und die Bürgermeister und Stadträte haben zugehört.
Das Konzept ging doppelt auf, denn erstens ist der Schneeberger bestimmt einer der schönsten Weihnachtsmärkte des Erzgebirges, und zweitens waren viele Händler von den städtischen Verkaufshäuschen so angetan, dass sie sie kurzerhand der Stadt abkauften, um sie auch anderswo einsetzen zu können. Voilà.
Glaube versetzt Berge – und baut Kirchen wieder auf
Die Gefahren unter Tage befeuerten es, der traditionelle Vorweihnachts-trubel und die Schnitzarbeiten materialisierten es: Bergleute waren gläubige Menschen, auch wenn dies nach 40 Jahren DDR in den blanken Zahlen nicht unbedingt wiederzufinden ist. Heute gehören im Erzgebirge nur noch ca. 50% der Menschen einer christlichen Glaubensgemeinschaft an, die meisten davon lutherisch-evangelisch. Für Ex-DDR-Regionen immerhin ein überdurchschnittlich hoher Wert.
Gleich nach dem Kriegsende 1945 dürfte das noch anders gewesen sein. Da hatten die Schneeberger, die geschockt und hilflos zusehen mußten, wie amerikanische Bomber noch im April ’45 ihren Dom zerstörten, sich ohne zu zögern an den Wiederaufbau ihrer Kirche gemacht.
Eine sehr sehenswerte Ausstellung im Turm der Kirche, den zu besteigen mehrfach lohnt, dokumentiert die Zerstörungen und den raschen Wiederaufbau, inkl. Rekonstruktion des 30 m hohen gotischen Kreuzrippengewölbes und des riesigen Dachstuhls. Was für eine Leistung angesichts der knappen Mittel in dieser Zeit, was für ein Ausweis des technischen Wissens und der handwerklichen Fähigkeiten der Menschen im Erzgebirge! Ob dieses Wissen auch heute noch in dieser Region vorhanden wäre, nach 50 Jahren Handwerksvernichtung durch Industrialisierung und Digitalisierung? Es darf bezweifelt werden.
In der Spitze des Kirchturmes angekommen, genießen wir von den vier Aussichtsbalkonen die Blick auf die Hügelketten des Erzgebirges und die Stadt. Die Dacheindeckungen Schneebergs sind durchgehend in dunklem Schiefer ausgeführt, auch hier scheint (zu recht) ein strenges Regiment zu herrschen, was erlaubt ist und was nicht. Die in hellen, dezenten und pastosen Naturtönen gestrichenen Häuser, nie zu bunt oder knallig in der Farbwahl, setzen sich dagegen freundlich ab.
Als dann bei einem letzter Rundgang durch die Stadt in einem Antiquitätenladen noch ein Kinderstuhl für unsere Sammlung auftaucht, ist das Glück perfekt. Eine tiefe Sonne taucht die Stadt in zartes winterliches Licht, und die Granitsteine leuchten in genau den richtigen Farben, um diesem historischem Stühlchen der Firma Naether als Hintergrund zu dienen. So ist das Glück perfekt, als wir Schneeberg in Richtung Chemnitz verlassen, nun auf den Spuren der Zeitgenössischen Kunst.
… und Chemnitz?
Wird erst die Europäische Kulturhauptstadt 2025, dann das neue Leipzig!
Es ist traurig zu beobachten, wie die Wahrnehmung einer Stadt durch einmal geprägte Sichtweisen bestimmt und nur selten der Willen spürbar ist, diese Narrative aufzubrechen, wie hier in der Süddeutschen Zeitung durch Jens Schneider. Wie der Boulevard bedient auch das Feuilleton gerne Erwartungshaltungen, und seien sie noch so falsch. So wie Venedig Jahr für Jahr aufs neue „versinkt“ oder bereits dem Klimawandel zum Opfer fällt (beides falsch, die Gründe für extremes aqua alta sind ganz andere), so ist Chemnitz eben ein Ausbund von Hässlichkeit und braunem Mob. Die totale Anti-Stadt.
Natürlich ist hier auch die Wahrheit eine andere. Chemnitz, im Vorland des Erzgebirges gelegen, war eine der bedeutendsten Industriestädte Deutschland, deren Einwohnerzahl sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im Schnitt alle 25 Jahre explosionsartig verdoppelte bis auf 360.000 im Jahr 1930! In der DDR wurden allein in dieser Stadt 20% der gesamten industriellen Produktion des Landes erzeugt.
Aber Chemnitz war nicht nur Industriestandort, sondern bereits um 1900 auch eine Kunststadt. Die Künstler der Brücke stammen von hier, Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel sind in Chemnitz aufgewachsen. Schon 1860 hatten Bürger einen einflußreichen Kunstverein gegründet.
Soviel Wissen, Bildung und Erfahrung kann in einer großen Stadt nicht total verpuffen, auch nicht durch die Jahre der Nazi-Verfolgung der Eliten und der DDR-Gleichschaltung. So ist Chemnitz heute wieder eine kulturaffine, junge und wachsende Stadt mit 250.000 Einwohnern (darunter 10.000 Studierende), die in beeindruckender Weise dabei ist, die heftigen historischen Verletzungen ihrer Stadtstruktur zu überwinden.
Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielen zwei Personen: Ingrid Mössiger, die langjährige Kuratorin der Kunstsammlungen Chemnitz, und der von ihr nach Chemnitz gelockte Alfred Gunzenhauser, der seine Sammlung der Modernen Malerei der Stadt 2007 für das frisch geschaffene Museum Gunzenhauser übergab.
Dieses Museum war unser Ziel. Die Sammlung des Stifters kannten wir schon in Auszügen, aber diesmal ging es um zeitgenössische Kunst, die das Museum zusammen mit dem Kunstmuseum Bonn, dem Museum Wiesbaden und den Deichtorhallen Hamburg kuratierte. Jetzt! Junge Malerei in Deutschland ist noch bis zum 19. Januar 2020 in Chemnitz zu sehen.
Unser Fazit: Man kann auch Sterben, ohne diese Ausstellung gesehen zu haben. Bis auf einige wenige reduzierte und abstrakte Arbeiten zieht uns wenig in den Bann. Vor allem scheint den jungen Künstler*innen jenes Farbgefühl abhanden gekommen zu sein, dass den Expressionisten noch zu eigen war. Wie sie heute grün, rosa oder türkis nebeneinander auf die Leinwand klatschen, gerade so, wie das Acryl aus der Tube kommt, tut es den Augen weh. Vier hochkarätige Institutionen der deutschen Museumslandschaft wirken hier zusammen, aber sie empfinden es nicht.
Das Schöne an Chemnitz ist der weite Himmel überall. Die großen Abstandsflächen und Freiräume wirken sehr urban, diese Stadt hat Platz und Luft zum atmen, und grüner wird sie auch. Die riesigen Einkaufsglaspaläste stehen zumindest in der Innenstadt, anstatt auf der Grünen Wiese, und wer in den stadtnahen Plattenbauten wohnt, kommt zu Fuß überall hin. Es ist für die Lebensqualität einer Stadt nicht entscheidend, was sie an baulicher Substanz vorfindet. Viel wichtiger ist, was sie daraus macht. Und Chemnitz macht sich.
Weil einen Stadt nichts ist ohne eine gute Gastronomie, in die man einkehren kann, um das Erlebte nachwirken zu lassen und zu besprechen, um die eingesammelten Drucksachen zu studieren und sich schließlich auch zu stärken, sei abschließend noch auf das Heck-Art verwiesen. Ein ganz wunderbares Lokal mit sehr gutem Essen, bereits seit den 90er Jahren in einem kleinen Häuschen am Stadtring gelegen, zwischen den es hoch überragenden Bauten der Moderne, aber gleich um die Ecke von Oper, Theater und Kunstsammlungen.
Die Zukunft von Chemnitz beginnt: Jetzt
Eine sehr umfängliche und ausgesprochen sachliche und ausgewogene Beschreibung der erzgebirgischen Heimat mit ihren kleinen und großen Besonderheiten.
Es zeigt sich einmal mehr was alles entdeckt werden kann, wenn man die Augen,Ohren und Sinne bewusst nutzt.
Die Seite gefällt mir sehr, reichlich mit Informationen ausgerüstet. Lohnt sich wirklich auf Entdeckungsreise zu
gehen.
Ein anschaulicher, lebendiger Bericht, der zum Reisen in dieser Region einlädt! Besonders schön die Darstellung, dass das Erbe lebt.
Eine kleine Anekdote in diesem Zusammenhang: im Herbst 2018 bereiste ich die Südbukowina (Rumänien), und fand in einem Nonnenkloster eine Wirkereimaschine aus Chemnitz aus den 1840er Jahren. Sie produzierte immer noch wunderbare Wollschals!
Danke für den Bericht!
Es ist ein wunderbarer und anregender Reisebericht gelungen, der alle Sinne anspricht und auf eine Region aufmerksam macht, in die man gleich hinfahren möchte, vor allem, wenn man sie noch nicht kennt. Sehr gelungen sind auch die Fotos, die den Bericht professionell garnieren.
Einfach großartig wie ihr meine Heimat erlebt und beschreibt. Ich selber, als gebürtiger Karl-Marx-Städter und Liebhaber des Erzgebirges, habe nach 6 Jahren in der Ferne auch eine ganz neue Sicht auf Sachsen bekommen. Ende der 1980 Jahre hatte schon ein guter Freund, Ivan Sojc, heute Museumsdirektor des Deutschen Fahrradmuseums in Bad Brückenau, mit mir über die industrielle Bedeutung meiner Heimat gesprochen. Hatte man in der DDR vergessen uns Heranwachsenden von den regionalen Besonderheiten und Stärken zu berichten?
Zum Städtchen Schneeberg möchte ich noch das Museum für bergmännische Volkskunst empfehlen. Hier befindet sich in einem sehr ansprechendem Barockgebäude die größte museale Sammlung von mechanischen Heimat- und Weihnachtsbergen. Einfach fantastisch.
Danke und noch ein friedvolles 2020
Danke, lieber André. Anfang Juli könnt Ihr Nils und Lars im Milchhof kennenlernen!
Lieber Herr Kobel,
Bemerkung kommt zwar sehr spät, ich habe aber erst jetzt Ihren Erzgebirgs-Text oder besser Ihre Erzgebirgshymne gelesen. Bedarf etwas dazu zu schreiben besteht aber trotzdem.
Ich bin selbst im Erzgebirge, in Annaberg-Buchholz, geboren und habe dort bis zum Studienbeginn gewohnt, Verwandte wohnen noch in Annaberg-Buchholz und Schwarzenberg.
Ich will Ihrem wunderbaren Bericht, der natürlich auch der Vorweihnachtszeit geschuldet ist (und Schneeberg ist da sicher einer der Höhepunkte) nur noch zwei Akzente hinzusetzen.
Es gibt eine Reihe herausragender Künstler aus dem Erzgebirge, so z. B. Carlfriedrich Claus, Carl-Heinz Westenburger (Holzbildhauer und Maler), meinen leider früh verstorbenen Bruder Hans Hess (MailArt-Initiator seit den 1970er Jahren).
Und das Erzgebirge mit dem Bergwerk ist ohne Wismut-Uranbergbau nicht denkbar. Die Zwiespätigkeit der des Wismut-Bergbaus prägt bis heute zumindest das mittlere udn wetsliche Erzgebirge. Vorschlag: Bitte unbedingt bei Interesse für diese Thema Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“ lesen, der lange nach seinem frühen Tod und nach dem Ende der DDR erschienen ist.
Ich wünsche Ihnen weiterhin diese Kreativität und die Kraft, so viele Ideen umzusetzen!
Vielen Dank! JK