Das Ziel heißt Zuzug, der Weg Tourismus (Kurzfassung)

Die Kleinstaaten haben Deutschland zum gebildesten Lande der Welt gemacht. (Wilhelm von Kügelgen, 1865)

© Karte: Zeit-Magazin 10/2021 vom 3. März 2021
© Text: Judith Rüber und Jan Kobel

(Diese Artikel ist eine Kurzfassung eines ausführlichen Artikels vom März 2021, der hier einzusehen ist)

Die Prüfung der Thüringer Residenzkultur als Kandidat für das UNESCO-Weltkulturerbe durch die aktuelle Landesregierung ist ein wichtiger Schritt, dieses kulturelle Erbe nicht nur zu respektieren und zu sichern, sondern auch sichtbar und erlebbar zu machen. In einem zweiten Schritt sollte das Tourismuskonzept des Landes kongenial angepasst werden. Diese Beitrag möchte dafür einen Weg aufzeigen.

1. Einleitung:

Wie vom ZEIT-Magazin im März 2021 beeindruckend visualisiert, hat das Land Thüringen ein deutliches Alleinstellungsmerkmal. Es besteht in der Vielfalt und Dichte seiner Residenzen, die sich der „Kleinstaaterei“ dieses Landes verdanken. Wenn Thüringen auch in Mentalität und Baukultur viel mit Franken, Sachsen-Anhalt und Sachsen gemein hat, unterscheidet es sich doch von seinen unmittelbaren Nachbarn, erst recht von allen anderen deutschen Staaten, dadurch, dass es in seiner Geschichte bis 1918 nie zentralistisch regiert war. Dass das ein positiv zu bewertendes Alleinstellungsmerkmal sei, klingt auf den ersten Blick erstaunlich. Es wird aber verständlich, wenn man sich folgendes vor Augen führt:

Die vielen kleinen Fürstentümer Thüringens konkurrierten seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht durch militärische Macht gegeneinander, wie die großen Fürstentümer und Königshäuser. Sie eiferten darum, sich durch die Pracht ihrer Bauten und Gartenanlagen, die Qualität ihrer Sammlungen, durch den Geist ihrer Hofkultur und die Erlesenheit ihrer Komponisten, Hofkapellen, Dichter*innen und Theater hervorzutun. Weimar ist das bekannteste Produkt dieser Konkurrenz, die Leute wie Goethe und Schiller, Herder und Wieland nach Thüringen lockte, und der es letztlich auch zu verdanken ist, dass Thüringen heute stolz auf das Bauhaus sein darf.

Schloss Friedenstein in Gotha. 1,15 Millionen Sammlungsgegenstände.
Ein Universum für sich. Gesehen aus dem Herzoglichen Palais

Wichtig ist zu erkennen, dass die Thüringer Residenzkultur nicht nur von touristischer und kultureller Bedeutung ist, sondern ein wesentlicher Beitrag zur Regionalentwicklung und für den Zuzug von Menschen sein kann. Die demoskopischen Prognosen für einzelne Regionen des ostdeutschen Raums sind dramatisch. Zu den größten Herausforderungen des Landes Thüringen gehört es deshalb, das Veröden der kleinen Städte und der ländlichen Regionen abseits der A4 zu stoppen. Zuzug wird zu einem immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor.

Voraussetzung dafür ist eine Konzertierung von Infrastruktur-, Wirtschafts- und Kulturpolitik mit einer landesweiten Tourismuskonzeption.
(…)

2. Residenzstädte, Residenzkultur: DAS ist Thüringen!

Thüringen teilt sein Alleinstellungsmerkmal Residenzkultur nur mit einer einzigen Region in der Welt, die geschichtlich ähnlich strukturiert war: den Stadtstaaten und kleinen Fürstentümern Norditaliens zur Zeit der Renaissance. Auch die kulturelle Dichte dort verdankt sich ähnlich wie in Thüringen einer Kleinstaaterei. Mit dem Unterschied, dass Italien seit Jahrhunderten ein deutsches Sehnsuchtsland ist, denn von hier kam die Musik, die Kunst, das Theater und die Architektur der Neuzeit über die Alpen.

Weida, oder

Doch auch Thüringen war einst ein Sehnsuchtsland! Für Schiller, der seinen „Teppich der Anbetung“ gen Rudolstadt ausrollte, wo er seine Liebe und Freiheit fand, oder für Wieland, der in der Nähe von Weimar sein „Osmantinium“ gründete. Die kulturelle Vielfalt und Pracht wirkte noch lange, bis in die 1920er Jahre. Sie fand mit den Nationalsozialisten und schließlich mit der Verachtung des feudalen Erbes durch die DDR ein jähes Ende. Bis heute hat sich Thüringen davon nicht erholt.

Es ist Zeit, das zu ändern! Denn an die Tradition eines deutschen „Arkadiens“ kann, davon sind die Autoren überzeugt, Thüringen wieder anknüpfen. Das Land kann und muss wieder Sehnsuchtsland werden. Denn ein touristisches Angebot, das keine Sehnsüchte bedient, ist ohne jede Chance.

… Venedig? Norditalien und Thüringen verbindet einiges.

Glücklicherweise hat in Thüringen trotz aller Wechselfälle der Geschichte diese Residenzkultur in all ihren Facetten – Gebäude, Strukturen, Gärten, Sammlungen, Landschaften und Wege – in erstaunlichem Umfang überlebt.

Die historischen Zentren der Städte Altenburg, Arnstadt, Bad Langensalza, Eisenach, Gotha, Greiz, Meiningen, Rudolstadt oder Schmalkalden – um nur einige zu nennen – sind überwiegend erhalten, die sie umgebenden Landschaften nicht zersiedelt, die zu den kleinen Zentren gehörigen Ort- und Liegenschaften präsentieren sich fast unverändert wie seit den letzten Tagen des Feudalismus. Damit ist der Grundstein gelegt für eine Tourismus-Konzeption der Sehnsucht. Allerdings auch nur der Grundstein.

Um auf diesem Fundament des baulichen und kulturellen Erbes ein Erlebnis Residenzkultur aufzubauen, braucht es fünf weitere Elemente. Hierzu später mehr. Zuerst noch folgen wir der Frage, welche Art von Sehnsucht dieses Land in der Mitte Deutschlands denn überhaupt befriedigen könne?

3. Sehnsucht Thüringen? Aber ja!

Es ist – nach 30 Jahren touristischer Selbstfindung und Irrwegen – offenbar auch für Touristiker nicht ganz einfach, zu verstehen, welche Art von Angebot die Thüringer Residenzlandschaft darstellt. Zu sehr ist das thüringische und deutsche Tourismus-Denken von „Leitprodukten“ und „Leuchttürmen“, „Event“ und „Erlebnis“, „Fun“ und „Sport“, „Branding“ und „Marken“ geprägt, und zu sehr wird sich an dem orientiert, was bereits anderswo bewährt scheint, statt neue Ideen zu wagen und zu realisieren.

Die Verfasser dieser Zeilen betreiben seit bald 10 Jahren ein kleines Hotel in einem denkmalgeschütztem Gebäudekomplex in Arnstadt, und es gelingt ihnen zunehmend, Gäste zu anzuziehen, die länger als einen oder zwei Tage bleiben, und die nach einer Woche höchst beglückt abreisen mit den Worten: Wir kommen wieder!

Stets ist das Erstaunen groß, wie schön und authentisch sich Thüringen darbietet, immer ist das Bedürfnis nach mehr Thüringen geweckt. Regelmäßig werden wir mit Vorschlägen eingedeckt, was noch geschehen sollte, um die Thüringer Städte touristisch weiter aufzuwerten. Unsere Gäste kommen nach Arnstadt, weil sie über die Plattform www.urlaubsarchitektur.de auf unser Hotel neugierig geworden sind. Sie verlassen Arnstadt mit einer Sehnsucht nach mehr Thüringen.

Sehnsuchtsort Hotel Stadthaus Arnstadt. Geschichte erleben, garantiert ohne Laminat und Trockenbau.

Diese seit Jahren hautnah erlebte Begeisterung ist für die, die hier wohnen, oft nur schwer nachzuvollziehen. Sie erkennen an ihren Städten, ihren Landschaften das Besondere nicht, es ist ihnen selbstverständlich geworden. Wer aber aus Frankfurt, Stuttgart, Kassel oder Köln nach Arnstadt reist, von London oder New York ganz zu schweigen, kommt aus einer völlig anderen Welt. Einer Welt, die zwar aus einer ähnlichen abendländischen Geschichte hervorgegangen ist, die im Jahre 2021 jedoch bereits so oft zerbombt, umgestaltet, abgerissen, überformt, verdrängt, unsichtbar gemacht, verleugnet und zerstört wurde, das heute nichts mehr an sie erinnert.

Die Städte des Westens inklusive Berlin erzeugen aus ihrem enormen Erfolg und ihrer Verdichtung, ihrem Stress und ihrer autogerechten Zersiedelung heraus ein stetig wachsendes Bedürfnis nach einem urbanem Erlebnis Stadt, das es seit Jahrzehnten im Speckgürtel Deutschlands in dieser Form nicht mehr gibt.

In Thüringen können Gäste Geschichte und Vergangenheit erleben in besonderer Anschaulichkeit, als ganzes Land, nicht als vereinzeltes Denkmal, wie anderswo. Als Liebhaber der Musik und der Kunst, der Renaissance oder des Jugendstils, der Industriekultur und der Moderne, taucht man in Welten ein, die zugleich authentisch sind und doch nicht museal, sondern ganz reale, normale Städte. Kleine Städte, aber Städte.

Natürlich ist das kein Angebot für jeden, sowieso ist kein touristisches Angebot für alle Menschen gleichermaßen interessant. Es ist aber ein Angebot für eine sehr begehrte Zielgruppe: die kulturaffinen Individualtouristen, die Familien mit gut gefülltem Geldbeutel, Menschen mit Anspruch auf nachhaltiges Reisen (das dichte Bahnnetz Thüringens ist hier interessant) und Menschen, die sich ihre Kulturerlebnisse erwandern oder erradeln wollen, bis ins hohe Alter, Bach-Afficionados und Barock-Fans. Diese Zielgruppen sind eindeutig zu definieren und anzusprechen. Es sind Millionen von potentiellen Gästen, alleine in Deutschland.

Werbung für Bach und Thüringen in der Londoner U-Bahn. Schlösser, Gärten und Museen sind nicht weniger interessant. Die Angelsachsen lieben alte Gemäuer.

4. Die Thüringer Residenzstädte müssen SICHTBAR werden!

Tourismus ist für Thüringen wichtig nicht nur als ein Wirtschaftszweig neben anderen, sondern als der Wirtschaftszweig, der wie kein anderer die Voraussetzungen schaffen kann für das Hauptkriterium zukünftigen wirtschaftlichen Erfolges: Zuzug, Menschen, junge Menschen und Familien.

Schon heute ist es so, dass Unternehmen ihre Standorte nicht mehr (nur) an Autobahnen, Infrastruktur und Fördermaßnahmen orientieren, sondern daran, wo die Arbeitskräfte, die man braucht, hinziehen wollen und werden. In Zukunft wird sich dieser Trend weiter verstärken, der Kampf um Fachkräfte wird das große Problem der deutschen Wirtschaftmaschine werden. Städte, die keine begehrten Wohn- und Lebensorte sind, werden mit den Menschen auch Arbeitsplätze verlieren.

Es hat sich etwas verkehrt: nicht mehr die Menschen folgen den Arbeitsplätzen, wie es Jahrhunderte lang der Fall war. Sondern die Unternehmen den Menschen! Das zu verstehen ist eine der großen Herausforderungen der Wirtschafts- und Strukturpolitik jedes Bundeslandes. Der Weg ist vorgezeichnet: die berstenden Metropolen müssen entlastet werden durch attraktive Lebensperspektiven in den kleinen Städten und im ländlichen Raum. Thüringen ist prädestiniert dafür, diese Alternativen zu bieten.

Zugleich bieten Digitalisierung, Homeworking und digitale Konferenzen auch die Chance, abseits der Zentren erfolgreich zu sein – als Dienstleister, Arbeitnehmer und auch als Stadt. Die Voraussetzung Nr. 1 lautet jedoch: diese kleinen Städte, auch jene abseits der Autobahnen, müssen nicht nur schön und lebenswert, sondern auch sichtbar sein.

Viele Thüringer Städte sind jedoch nicht nur unbekannt, sie sind unsichtbar. Der Tourismus alleine bietet diesen Städten die Chance, wieder dorthin zu geraten, wo sie schon einmal waren, vor über 100, 150 Jahren: Im Blickfeld der Menschen in den Metropolen, die der Großstadt überdrüssig geworden sind.
(…)

Greiz im Vogtland. Das Fundament ist gelegt. Eine wunderbar wieder-hergestellte Stadt. Im „Thüringer Tourismuskonzept“ kommt sie nicht vor.

Die fünf Säulen einer erfolgreichen Tourismusstrategie für ganz Thüringenam Beispiel Greiz

Nehmen wir als Beispiel jene Stadt unter den Thüringen Städten, die es vielleicht am schwersten hat, Menschen anzuziehen. Sie liegt weit im Osten des Landes an der Grenze zu Sachsen, ist relativ schlecht angebunden, hat viel verlorene Industrie und immer noch leicht sinkende Einwohnerzahlen, die nächsten Hauptzentren liegen in einem anderen Bundesland (Plauen und Zwickau). Eine Stadt, die, so schön sie ist, alleine aufgrund ihre Lage ganz andere, schwierigere Bedingungen hat als zum Beispiel die Stadt Arnstadt. Nehmen wir Greiz.

Was braucht die Stadt Greiz, um zu einem Ort der Sehnsucht zu werden, zu einer Urlaubs-Destination im Rahmen des Städtetourismus?

Wir haben das zusammengefasst nach fünf Gesichtspunkten:

1) Aufwertung der öffentlichen Räume der Stadt im Sinne eines flanierenden und verweilenden Tourismus.
Greiz ist wie die meisten Städte Thüringens im Wesentlichen durchsaniert. Die drei Schlösser sind zumindest gesichert, vieles auch restauriert, ähnlich die Innenstadt, Straßen, Pflaster und Brücken historisch informiert wieder hergestellt. Dennoch: wer durch die Stadt flaniert, vermißt Angebote zu verweilen.

Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen: Durch Greiz fließt die Weiße Elster, sie teilt die Stadt in zwei Hälften, eine jüngere und eine ältere, beide von großer Pracht. Zwischen Schloss und zwei Brücken liegt ein ehemaliger Schlossgarten, heute allerdings nichts als – Wiese. Welche Stadt hat eine solche Uferpromenade in ihrem Zentrum? Aber die Greizer scheinen nichts daraus machen zu wollen.

Greiz, Zentrum: Hier könnten die Elster-Terrassen entstehen

Wichtig wäre es, hier einen Zugang zum Wasser zu schaffen, mit Sitztreppen aus Naturstein, Bänken, ein paar Bäumen, die im Sommer Schatten spenden, mit Spiel- und Planschzonen für Kinder und mit einem kleinen Sommercafé. Eine Anregung, die übrigens auch mancher anderen thüringischen Stadt gut zu Gesicht stünde. Förderprogramme des Landes für solche Baumaßnahmen sollten sich finden lassen.

Das wäre auch ein Fotomotiv, das durch Deutschland wandern könnte, ein Motiv für eine Kampagne. Leben und Entspannen am Wasser mit zwei Schlössern im Hintergrund, Erfüllung einer Sehnsucht, überall auf der Welt. Ein Foto, das neugierig macht, aus einer Stadt, die keiner kennt, noch nicht mal die Thüringer*innen selbst. Ein erster Schritt wäre getan.

2) Hotels in historischen Gebäuden, die gehobenen Ansprüchen genügen.
Die schönste Stadt nutzt nichts, wenn die Menschen, die sie besuchen, nicht ihren Erwartungen entsprechend übernachten können. Greiz braucht ein Hotel, das diese Erwartungen übertrifft. Es kann nur in einem historischem Gebäude untergebracht sein, denn ein Neubau ist nicht nur unverantwortlich angesichts des Leerstandes in der Stadt, er ist auch langweilig, international austauschbar, ohne lokales Colorit.

Geschichte erleben wollen die Gäste, die durch Residenzkultur angesprochen werden, auch in ihren Zimmern, in Frühstücks- und anderen öffentlichen Räumen. Mit Sichtmauerwerk, historischen Putzen, alten Dielenböden und historischen (Kasten-)Fenstern. Nicht zielführend sind Laminatböden, neue Industrieputze oder abgehängte Decken. Dazu gehören Gartenanlagen, Terrassen, Restaurant, Café und Bar.

Der Marstall in Greiz, aus der Innenstadt heraus gesehen. Er könnte den Rahmen abgeben für ein Hotel, in dem jeder einmal übernachten möchte

Solche Hotelinvestitionen thüringenweit zu realisieren bedarf öffentlich-privater Kooperation und regional übergreifender Konzepte. Statt um Ufos wie „Center-Parcs“ zu buhlen, sollte Thüringen hier ansetzen. Die Verfasser dieses Papiers können hierzu konkrete konzeptionelle Anregungen unterbreiten. 

Ein Anfang sollte zügig gemacht werden, denn der Wandel der Residenzstädte zu Orten der Sehnsucht wird viele Jahre benötigen. Solche einzigartigen Hotel-Leuchttürme (hier ist es sinnvoll davon zu sprechen) ziehen im übrigen stets weitere vergleichbare Hotels und Ferienwohnungen nach sich. Mit Unterstützung des Landes müssen maßstabsetzende touristische Einrichtungen geschaffen werden.

3) Förderung der Gastronomie, orientiert an den Konzepten europäischer Metropolen.
Die schönste Stadt nutzt weiterhin nichts, wenn die Menschen, die sie besuchen, nicht ihren Erwartungen entsprechend einkehren, essen und genießen können. Ohne an dieser Stelle ein Urteil abgeben zu können über den Zustand der Greizer Gastronomie, darf man vermuten, dass hier wie fast überall in Thüringen noch Luft nach oben ist.

Mit einer gezielten Kampagne und entsprechenden Förderanreizen muss auch in Greiz eine internationalen Ansprüchen genügende Gastro-Szene entstehen. Diese sollte sowohl das niederpreisige Take-away- und Imbiß-Bedürfnis mit regionalen, handwerklichen hergestellten Produkten bedienen und das Bedürfnis nach einer Slow-food-Wirtshauskultur, sowie – auf der anderen Seite der Preisskala – feines Dinieren ermöglichen.

4) Das Erlebnis Begreifen durch synoptische Erzählung.
Warum ist Residenzkultur der Schlüssel zu einer touristischen Entwicklung von ganz Thüringen? Weil die Residenzkultur der Schlüssel zum Begreifen der europäischen Geschichte und Kultur ist, mal im Detail, mal als Gesamtschau.

Von der frühen Missionierung bis zum 19. Jahrhundert der Nationenbildung, von der Opposition Heiliges Römischen Reich versus Reformation, vom Schmalkaldischen Bund über den 30-jährigen Krieg bis zum Westfälischen Frieden – überall läßt sich in Thüringen anschaulich erzählen von Romanik, Gotik und Renaissance, vom Barock, Klassik und Gründerzeit und von der Geschichte der frühen Industrialisierung. Von der Via Regia und von Hanse- und Freien Reichsstädten, von Vögten, Grafen oder Fürsten. Oder auch davon, wie die Bauern, Handwerker, Stadtpfeifer oder Juden und Jüdinnen lebten, oder was Dichter*innen und Denker, Organisten und Orgelbauer, Komponist*innen und Maler bewegte.

Es sind gerade diese sich vor- und übernational überlappenden und ergänzenden Impulse des Mittel- und Südeuropa umfassenden Heiligen Römischen Reiches, die bis heute Landschaft, Geschichte und Kultur Thüringens prägen und die uns, so wir zuhören können, Geschichten erzählen, die in ganz Europa ihren Widerhall finden.

Was beispielsweise verbindet die Mesquita in Cordoba, die Hofburg in Wien und das im Stile der niederländischen Renaissance erbaute Residenzschloss Neideck samt Schlossgarten in Arnstadt? Es ist Kaiser Karl V., Europas mächtigster Herrscher des 16. Jahrhunderts, es ist Günther der Streitbare von Schwarzburg, es ist Schillers Don Karlos.

Friedrich Schiller und seinen Zeitgenossen waren diese unmittelbaren Zusammenhänge der europäischen Geschichte mit der Thüringer Residenzkultur noch völlig präsent, sie spiegeln sich in seinen Dramen. Wir aber haben sie vergessen. Auch hier muss eine Tourismusstrategie für das Land ansetzen: mit einer synoptischen Erzählung, die durch das Begreifen eine Stadt zum Erlebnis, ja überhaupt erst sichtbar macht.

Oder das Thema Gärten und Parks: In England sind diese für Europäer aller Nationen ein selbstverständlicher Grund für eine 14-tägige Reise. In Thüringen aber fehlt es bis heute an Selbstbewußtsein, diese überhaupt als touristische Ziel zusammenzufassen. So beschädigt ist das Selbstvertrauen dieses Landes in sich selbst.

5. Eine Marketing-Strategie im Verbund mit den anderen Städten. 

Die Residenzstadt Greiz ist nur zu begreifen und in einen dynamischen Entdeckungsprozess einzubinden im Verbund mit Weida, Burgk, Gera und den anderen Schlössern und Burgen des Hauses Reuss. Dieser Entdeckungsprozess umfasst viele Sphären des gesellschaftlichen Lebens und führt quer durch Thüringen und Europa. Von den Vögten von Weida zum Hause Reuss, von Heinrich Posthumus zu Heinrich Schütz, von Schütz nach Venedig und von Vivaldi zu Bach, von Bach zu Luther und von Luther zu Cranach u.s.w.

11. August 2012:
Das französisch-belgisch-niederländischen Ensemble Vox Luminis besucht in Gera die Sarkophage des Heinrich Posthumus Reuss, beschriftet mit den Texten der Exequien des Heinrich Schütz. Die Begeisterung über dieses Erlebnis führte zu einer spontanen Darbietung der international hochdekorierten Gesangsgruppe

Die Städte und Orte des Hauses Reuss sollten sich somit als touristische Einheit begreifen, mit gemeinsamen Kampagnen und Substrategien. Das gilt analog auch für die Schwarzburger, die Wettiner-Ernestiner, Bach und Luther (letzteres mit dem Luther-Weg bereits vorbildlich umgesetzt). Unter einer noch zu findenden Dachmarke, neuen Slogans und einem vorgegebenen gestalterischen Rahmen müssen die Thüringer Residenzstädte ihre Werbemittel, Drucksachen, Internetseiten und Pressearbeit gemeinsam anpassen an das Ziel, Thüringen als einen Ort des sinnlichen Erlebens und Begreifens der europäischen Kultur in den Fokus eines internationalen Tourismus zu stellen.

Fazit:
Auf vielen Ebenen in Politik und Verwaltung ist ein Umdenken spürbar, hin zu mehr Nachhaltigkeit im Bauen und mehr Respekt vor dem historischen Bestand, für den Erhalt unserer Industriekultur und urbaner Strukturen als bewährte städtische Lebensräume. Die Zeit ist reif für eine touristische Neuausrichtung des Landes Thüringen und seiner Residenzstädte, aber auch der dazugehörigen Freien Reichsstädte und der Industriestädte.

_____________________

In diesem Zusammenhang ein Blick in die Thüringer Kulturlandschaft entlang der Unstrut von 2019:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert